Bombay Rose

Indien 2019 · 93 min. · FSK: ab 12
Regie: Gitanjali Rao
Drehbuch:
Musik: Cyli Khare, Yoav Rosenthal
Schnitt: Gitanjali Rao
Filmszene »Bombay Rose«
Wie im Bombay von Raj Kapoor’s Shree 420 (1954) regnet es auch heute noch...
(Foto: Netlix)

Liebe auf den zweiten Blick

Gitanjali Raos kritische Liebeserklärung an das alte Bombay und das neue Mumbai ist nicht nur große Animationskunst, sondern auch eine so wilde wie zärtliche, anspielungsreiche wie bewegende Erzählung

»Parxi mhaka duddu ditole
Ghoddie te bhangar ghetole
Melear mhaka kanvlle khatole
Goemkar muje matie ietole«

Red Rose, Lorna Cordeiro

Warum nicht mal mit dem Ende beginnen? Umso mehr als es im Fall von Gitanjali Raos wunder­schönem Anima­ti­ons­film Bombay Rose besonders gut passt. Denn allein schon wegen diesem Ende, dieser drei Minuten und einund­zwanzig Sekunden lohnt es sich, Bombay Rose zu Ende zu sehen. Als alles erzählt ist und die Prot­ago­nisten mit hoff­nungs­vol­lerem Blick in die Zukunft sehen als noch am Anfang der Geschichte, setzt Lorna Cordeiros umwer­fender Gesang ein. Die große, jahr­zehn­te­lang verstummte Sängerin aus Goa singt ihren großen, frühen Konkani-Hit Red Rose. Und wir sehen mit diesem Lied die Sonne über Mumbai unter­gehen, wir sehen die Nacht herein­bre­chen und Busse, Autos und Tuktuks vorbei­fahren und ein paar Passanten in diesen wunder­baren Mumbaier Abend spazieren, wir sehen Dächer und ein Film­plakat, wir sehen die letzten großar­tigen, von 60 Künstlern in 18 Monaten »Hand­ar­beit« einzeln gezeich­neten Panels dieses nicht nur technisch und musi­ka­lisch ganz in alten Tradi­tionen schwel­genden Films.

Dabei ist das nur eine von vielen Ebenen, die Raos so emotio­naler wie kluger Film in einem asso­zia­tiven, erzäh­le­ri­schen Rausch, der sich an keine Konven­tionen, an keine klas­si­schen erzäh­le­ri­schen Span­nungs­bögen hält, bereit­hält. Klas­si­sche Bollywood-Tracks wie Yeh Mera Dil (aus Don, 1978) oder Hoon Abhi Main Jawan (aus Aar Paar, 1954) werden so über­ra­schend einge­spielt wie sie auch wieder verschwinden und wecken Erin­ne­rungen und sind Anspie­lungen an große Momente des Hindi-Films, die über die alte Schau­spie­lerin Frau D’Souza noch einmal verstärkt werden, bei der die Heldin des Films, Kamala, Englisch-Stunden nimmt. Aus den Englisch­stunden entsteht eine Beziehung zwischen den Genera­tionen, mit Spazier­gängen, bei denen sich die heutige Mumbai Maximum-City Suketu Mehtas in faszi­nie­rend somnam­bule Schwarz-Weiß-Frames des alten Bombay verwan­delt und das Bombay mit seinen alten Straßen­bahnen und weiten Straßen wieder­auf­er­steht, um dann genauso schnell wieder zu verschwinden.

Das mag einigen zu asso­ziativ und expe­ri­men­tell klingen, ist es aber nicht. Denn Bombay Rose erzählt fast nebenbei auch Geschichten, die mit Spannung und poli­ti­scher Brisanz auch die Gegenwart mit ins Boot holen. Auch das funk­tio­niert nicht ohne zahl­reiche Anspie­lungen und Refe­renzen an das Kino Bombays, gibt es natürlich auch diese Geschichte schon, die des Jungen vom Land, der auf der Suche nach Arbeit in Bombay landet und sich in ein Mädchen verliebt und über das legendäre Lied Pyar Hua Ikrar Hua (aus Raj Kapoor’s Shree 420, 1955) wird diese Geschichte in Raos Film einge­bettet und erweitert den film­his­to­ri­schen, aber auch gesell­schaft­li­chen Reso­nanz­raum ins fast schon Uner­mess­liche.

Doch anders als bei dem großen Raj Kapoor ist das Mädchen bei Rao explizit ein Hindu-Mädchen, das sich von ihren Eltern losgesagt hat und mit ihrer Schwester nach Mumbai zu ihrem Großvater gezogen ist, weil ihre Eltern es zwangs­ver­hei­raten wollten. Kamala verliebt sich in Mumbai in einen jungen Muslim, in Salim, der dem ständigen poli­ti­schen Ausnah­me­zu­stand in Kashmir entflohen ist und sich in Kamala verliebt.

Was für westliche Augen ein wenig ausge­fräst und nur allzu bekannt klingen mag, ist in den Zeiten von Indiens Präsident Narendra Modi, der mit seiner Partei die unter Gandhi groß­ge­wor­dene Vision eines Viel­völker- und multi­re­li­giösen Staates zunehmend aushebelt und Muslime zu Geäch­teten macht, aller­dings fast schon ein Unding. Doch es ist noch mehr kaputt. Denn so wie in Ramin Bahranis White Tiger (2021) sehen wir auch hier die Ober­schicht mit ihren SUVs die Unter­schicht töten, wird aber nicht die Gegenwart am Schopf gepackt, sondern auch das alte Indien subtil kriti­siert, das sich über expli­zites Englisch-Sprechen von den unteren Klassen abzu­grenzen pflegte. Wir erfahren von Kamala, dass sie eigent­lich nach Dubai will, dass sie nicht nur Blumen zu Ketten bindet und verkauft, sondern auch Tänzerin ist, bis ihr Etab­lis­se­ment in einer der berüch­tigten, will­kür­li­chen Razzien der Mumbaier Polizei geschlossen wird. Und wir lernen Kamalas kleine Schwester Tara kennen, die ebenfalls bei Kamalas Großvater lebt und einen kleinen, taub­stummen Jungen vor dem Zugriff einer Razzia durch die Jugend­po­lizei rettet und ihm ein neues Leben jenseits der üblichen Kinder­ar­beit ermö­g­licht. Diese hyper­realen Momente werden immer wieder mit Elementen von magischem Realismus versetzt, wie etwa bei Kamalas Begeg­nungen mit Mike, einem aggres­siven Zuhälter, der Kamala die Reise nach Dubai zu orga­ni­sieren hilft und der sich vor und nach ihren Begeg­nungen in einen Raubvogel verwan­delt.

Diese flir­renden Übergänge von Realität zu Imagi­na­tion sind auch für die Tagtraum­welt zentral, in die Kamala dann und wann abgleitet, in der sie zu einer Prin­zessin des alten Mogul­reiches (1526 bis 1858) wird, das so, wie es Kiran Nagarkar in Krishnas Schatten beschrieben hat, leiden­schaft­lich, roman­tisch und modern ist, und dabei ein heute nur allzu gern verdrängter isla­mi­scher Vorgänger heutiger iden­ti­tärer Hindi-Gegenwart ist.

Rao jedoch beschwört die goldene Zeit der Mogulen herauf statt sie zu verdrängen, mit Zitaten großer Mogul-Kunst­werke und durch Frames, die ganz im Stil alter Mogul-Bilder gezeichnet sind. Und mit einer Liebes­ge­schichte, die diesen Bruch mit der Vergan­gen­heit bloßlegt wie eine nie geschlos­sene Wunde. Gleich­zeitig zeigt Bombay Rose in einem zweiten Blick, dass es viele Formen von Liebe gibt, für die es sich zu leben lohnt, vor allem die zu Mumbai, das so wie einst Bombay ein Schmelz­tiegel aller Kulturen und aller Träume bleiben wird, dass Englisch, Hindi, Kaschmiri und Maharati genauso dazu gehören wie Konkani. Und mit den Sprachen natürlich ihre Menschen, ihre Reli­gionen und letzt­end­lich auch – ihre Politik.

Bombay Rose ist seit 8. März 2021 auf Netflix abrufbar.