Brownian Movement

Niederlande/B/D 2010 · 101 min. · FSK: ab 16
Regie: Nanouk Leopold
Drehbuch:
Kamera: Frank Van den Eeden
Darsteller: Sandra Hüller, Dragan Bakema, Sabine Timoteo, Ryan Brodie, Frieda Pittoors u.a.
Geheimnisvoll, unverhohlen exzentrisch...

Die Fremde

Struk­tu­ra­lis­ti­sches Melodrama: Nanouk Leopolds Film rührt an die Natur unserer Freiheit

Das Zimmer ist weiß gehalten, mit hellem Holzboden. Ein wenig erinnert es an die klinische Atmo­s­phäre des Labors, in dem Charlotte, die junge Frau im Zentrum des Films, als Ärztin tagsüber in einer Brüsseler Klinik arbeitet. Auch hier macht sie Expe­ri­mente, aller­dings sind diese anderer Art: Sie bittet verschie­denste Männer in die eigens ange­mie­tete Wohnung, um mit ihnen zu schlafen, viel­leicht auch mehr, um sie zu berühren oder einfach anzu­schauen mit ihrem sonder­baren Blick, der oft so wirkt, als sei sie von sich selbst erstaunt. Was allen diesen Männern gemeinsam ist, ist, dass sie etwas älter sind, und nicht gerade lang­läu­figen Schön­heits­vor­stel­lungen entspre­chen: Zwei sind recht fett, einer überaus stark behaart, ein anderer kahl­köpfig, ein nächster körper­be­hin­dert. Dem Muster des sexuellen Begehrens, das Charlotte hier auslebt, scheint in Anteil von Abstoßung, womöglich Ekel beige­mischt, und allemal scheint sie von körper­li­chen Kurio­sitäten angezogen zu werden. Was sie da überhaupt tut, verwun­dert, denn bald erfährt man über Charlotte auch, dass sie offen­sicht­lich glücklich verhei­ratet ist, und einen kleinen Sohn hat.

Das Paar, das sich aufrichtig liebt, versucht dann einen Neuanfang in Indien. Charlotte wird noch einmal Mutter werden, und Zwillinge gebären. Das Paar hält anein­ander fest, obwohl mit Char­lottes seltsamen Erfah­rungen etwas zwischen ihnen steht, dass sich nie besei­tigen lässt. Obwohl sie nicht alles mitein­ander teilen können. Manchmal träumt Charlotte einfach vor sich hin. Sie lächelt, so als hätte sie etwas in sich entdeckt. Dann streckt sie sich auf dem kalten Beton einer Bauruine aus und reibt ihre Hand an der groben Ober­fläche...

»Ich weiß nicht, was ich jetzt fühlen soll.«

Dies ist ein seltsam geheim­nis­voller und unver­hohlen exzen­tri­scher Film. Ein Film, der nicht um sein Publikum buhlt, es aber doch durch Intel­li­genz und seltsamen Witz verführt. Ein bürger­li­ches Drama, das eine traurigen Seiten hat, und doch auch eine offene Farce, die die Absur­ditäten der Gesell­schaft, aus deren Herzen es kommt, mit den Frus­tra­tionen und Leiden­schaften seiner Figuren auf der Leinwand entfaltet. Schließ­lich ein sinn­li­cher Film, der dem Zeigen mehr vertraut, als dem Erzählen, den Bewe­gungen mehr, als der Psycho­logie, den Körpern mehr als den Worten.

Bei dem »Brown­schen Bewe­gungs­ge­setz«, das diesem Film den Namen gibt, handelt es sich um eine Regel, mit der sich das will­kür­liche Driften physi­ka­li­scher Teilchen, etwa kleinster Staub­par­tikel, berechnen lässt – es geht also um die Beschreib­bar­keit des eigent­lich Unbe­schreib­baren. Solche irre­gu­lären Bewe­gungen, die sich dem Betrachter nur zum Teil erschließen, macht auch die Haupt­figur Charlotte. Der Bezug zur Natur­wis­sen­schaft hat auch insofern Sinn, als dass hier die Filme­ma­cherin eine Versuchs­an­ord­nung ausführt, ein anti­psy­cho­lo­gi­sches Expe­ri­ment und der ganze Film mitunter den Eindruck eines Gedan­ken­ex­pe­ri­ments hinter­lässt. Dieses ist vor allem durch zwei Leit­fragen bestimmt. Die eine lautet: Wie wäre es, wenn wir alle einen Raum hätten, der unserem rest­li­chen Leben völlig entzogen ist, in dem wir ein expe­ri­men­telles Verhältnis zur Welt einnehmen und straflos tun könnten, was wir wollen? Was würden wir überhaupt darin tun? Ein solcher Raum zum Rückzug und Ausleben verbor­gener Begierden ist das Zimmer, in dem sich Charlotte mit den fremden Männern trifft, bis das eines Tages durch Zufall entdeckt wird. Da setzt dann der zweite Teil des Films ein, in dem vor allem die (Über-)Reaktion unserer Gesell­schaft ins Zentrum gestellt wird, die auf abwei­chendes, »uner­klär­li­ches« Verhalten mit Behand­lung, Normie­rung und Kontrolle reagiert. Charlotte wird eher gegen ihren Willen, aber nicht gegen ihren Wider­stand aufgrund von »mangelnder Empathie« – was für ein seltsamer Grund! – für berufs­un­fähig erklärt, verliert ihre Appro­ba­tion, wird behandelt, zur Therapie gezwungen. Sie bekommt Medi­ka­mente und sie soll das Uner­klär­liche, das ihr begegnet ist, erläutern. Denn wer so etwas tut, so glaubt ihre Umwelt, der muss doch krank sein. Die Hölle, das sind auch hier die Anderen. Aber gegenüber der Thera­peutin kann sie sich nicht erklären: »Sie haben alle etwas... Hm ... Es ist anders... Ich weiß nicht, was ich jetzt fühlen soll.« Auch vor ihrem Mann soll sie ausbreiten, was sie eigent­lich umtreibt. Nur in bruch­s­tück­haften Erzähl­fetzen erklärt Charlotte sich, wohl auch, weil sie es selbst nicht erklären kann und will. Darin erinnert Charlotte an Camus' Fremden Meursault, der auf seine Taten auch nur antworten konnte: »Die Sonne war schuld.« Und das verweist auf die zweite Leitfrage des Films, die nach der Natur der mensch­li­chen Freiheit.

Viel­leicht, so muss man die Regis­seurin Nanouk Leopold verstehen, steht Freiheit ja einer physi­ka­li­schen Irri­ta­tion, deren Ursache nicht leicht zu benennen ist, näher als einem Willensakt. Und bestimmt hat Freiheit auch viel mit Verwei­ge­rung zu tun. Wo unsere Gesell­schaft Reue verlangt, verwei­gert sich Charlotte. Es gibt keinen Moment in diesem Film, in dem sie Bedauern zeigt. Darum ist sie frei.

Das Terrain der Weib­lich­keit, moderne Emotionen und die funda­men­tale Erschüt­te­rung

Nanouk Leopold, die sich seit ihrem Debüt Îles flot­tantes (2001) zu einer der inter­es­san­testen Regis­seu­rinnen des europäi­schen Gegen­warts­kinos entwi­ckelt hat, einer Auto­ren­fil­merin die in ihrer eigen­tüm­li­chen Verbin­dung von Intel­lek­tua­lität und Sinn­lich­keit, Witz und Stil­willen Erin­ne­rungen an die junge Agnès Varda aufkommen lässt: An ein dezidiert »weib­li­ches« Filme­ma­chen, ohne sich den Kate­chismen des »femi­nis­ti­schen Films« zu verschreiben.

Nach mehreren Kurz­filmen und Fern­seh­ar­beiten wurde die 1968 geborene Nieder­län­derin Leopold vor allem mit ihrem Film Wolfs­bergen bekannt, der 2007 im Berlinale-Forum Premiere hatte. Voraus­ge­gangen waren ihr Debüt Îles flot­tantes (2001) und Guernsey (2005). Allen vier Filmen gemeinsam ist die Erkundung des Terrains von Weib­lich­keit und modernen Emotionen. Der rote Faden im Werk der Nieder­län­derin sind weibliche Haupt­fi­guren, die zwischen 30 und 40 Jahre, also nicht mehr ganz jung, aber noch keines­wegs alt sind, die aus bürger­lich-liberalen urbanen Milieus stammen und sich in stabilen Liebes­be­zie­hungen befinden, in denen ihnen eine funda­men­tale Erschüt­te­rung wider­fährt. Während »Îles flot­tantes« noch der heiterste ist und im Gewand einer Bezie­hungs­komödie die eigent­lich schon kata­stro­phale Geschichte einer Frau erzählt, die ihren Mann aufgrund eines Miss­ver­s­tänd­nisses verlässt, dann aber, als sie zurück­will, von ihm abge­wiesen wird, verdun­kelt sich Leopolds Stimmungs-Palette mit den folgenden Filmen immer mehr: Auch in Guernsey (2005) und Wolfs­bergen (2007) ging es um indi­vi­du­elle Entfrem­dungs­pro­zesse. In Guernsey in dem eine junge Ehefrau – die Charlotte in vielem ähnelt – durch den Selbst­mord einer Kollegin in ihrem grauen Yuppie-Alltag zutiefst irritiert wird; in Wolfs­bergen um ein anhand der Ehefrau erzähltes Fami­li­en­drama. Es sind Entfrem­dungs­pro­zesse und indi­vi­du­elle Erschüt­te­rungen, von denen Leopold erzählt.

Der Baum der Erkenntnis und das Unver­s­tändnis der Anderen

Brownian Movement ist noch mehr als seine Vorläufer ein Film voller Rätsel und insze­niert mit großem Stil­willen. Man sieht, dass Leopold vor allem von den Meistern des europäi­schen Kino-Exis­ten­tia­lismus der Nach­kriegs­zeit gelernt hat, vor allem vom Antonioni der Jahre um L’avventura und La notte. Auch dort standen nicht zufällig Frauen im Zentrum, das – vergleichs­weise – verwund­bare, passive und »körper­be­wusste« Geschlecht. Leopold erzählt mit einer oft stati­schen, nur leicht bewegten Kamera vieles über die Räume, in denen sich ihre Figuren aufhalten. Es ist die klare, helle Archi­tektur der 20er und 30er Jahre. Ein Gebäude stammt von Le Corbusier – ein offener Saal, in den das Sonnen­licht von allen Seiten einfällt. Die Farben sind leicht ausgeb­li­chen und oft nahe am Pastell. Getragen wird der Film über weite Strecken auch von seiner Haupt­dar­stel­lerin Sandra Hüller und ihrer darstel­le­ri­schen Authen­ti­zität. Ihre Charlotte blickt manchmal gedan­ken­ver­loren zur Seite, sie schweigt viel. Ihr Gesicht, ihre redu­zierte Mimik rücken immer wieder in den Fokus. Um ihren Mund spielt dann mitunter auch ein kleines Lächeln. So verleihen Hüller, die für diese Arbeit beim Festival des deutschen Films in Ludwigs­hafen einen Darstel­ler­preis erhielt, und ihre Regis­seurin, diesem exzen­tri­schen geheim­nis­vollen Film auch einigen Witz.

Brownian Movement ist aber nicht nur ein angenehm desil­lu­sio­nie­render Liebes- und Ehefilm, sondern über das indi­vi­du­elle Verhalten seiner Haupt­figur, der in dieser Gesell­schaft nicht zu helfen ist, auch umgekehrt ein Portrait dieser Gesell­schaft, deren Verhalten nicht weniger uner­klär­lich ist, als das der Brown­schen Bewegung. Eine offene Farce, die die Absur­ditäten der Gesell­schaft, aus deren Herzen es kommt, beiläufig entfaltet, ein Film, der kühl ist, aber nicht kalt. Ein struk­tu­ra­lis­ti­sches Melodrama, in dem das Gefühl nur in Form von Leer­stellen noch vorhanden ist. Fragmente einer Sprache der Liebe, die zugleich – und das ist der Schlüssel zu diesem Film – eine Sprache der Einsam­keit ist. Hinter der Geschichte der Ehefrau versteckt sich auch das Drama des Ehemanns. Wie einst Adam hat er durch die Taten der Frau seine Unschuld und sein Vertrauen in die Welt verloren. Er hat vom Baum der Erkenntnis gegessen, und nun weiß er mehr. Glücklich kann ihn das nicht machen.

Man erfährt schließ­lich, wie die moderne thera­peu­ti­sche Gesell­schaft, auf abwei­chendes, »uner­klär­li­ches« Verhalten reagiert. Wie sie ihre Bürger normiert, kontrol­liert, und mit einem fürsorg­li­chen Tota­li­ta­rismus umschlingt, bis sie ersticken. Hier, spätes­tens erkennt man als Zuschauer in Charlotte nicht nur eine merk­wür­dige, exzen­tri­sche, sehr fremde Frau, sondern sich selbst, dem das alles auch passieren könnte, wenn man das nächste Mal etwas tut, was die Anderen wieder nicht verstehen.