Belgien/F/L 2015 · 115 min. · FSK: ab 12 Regie: Jaco Van Dormael Drehbuch: J. V. Dormael, T. Gunzig Kamera: Christophe Beaucarne Darsteller: Benoît Poelvoorde, Pili Groyne, Marco Lorenzini, François Damiens u.a. |
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Ein surrealistisches Märchen |
Warum lässt Gott, wo er angeblich doch allmächtig ist, immer wieder Leid und Übel zu? Eine Kernfrage des sogenannten Theodizee-Problems, das Philosophen seit Jahrhunderten beschäftigt. Der belgische Regisseur Jaco Van Dormael findet in seiner Komödie Das brandneue Testament eine einfache, freilich nicht ernst gemeinte Antwort: Weil es der Schöpfer (Benoît Poelvoorde) nun mal so will! Dem Weltenlenker macht es Spaß, die Menschen zu verärgern. Unheil zu verbreiten. Und ihren Alltag zu erschweren. Nach Lust und Laune greift er von seinem Büro in einem schäbigen Brüsseler Hochhaus in den Lauf der Dinge ein und hat in listiger Voraussicht einen Gesetzesschwung verfasst, der die Erdenbewohner häufig verzweifeln lässt. Ein Marmeladenbrot fällt immer auf die Marmeladenseite. Und im Supermarkt reiht man sich stets in die Schlage ein, die langsamer vorankommt. Dank Gottes Segen!
Zu allem Überfluss ist der misslaunige Bademantelträger auch noch ein Pascha, wie er im Buche steht, der seine Frau (Yolande Moreau) bei jeder Gelegenheit zurechtstutzt und seine Tochter Ea (Pili Groyne) verprügelt, wenn er es für richtig hält. Kein Wunder also, dass die Zehnjährige irgendwann die Nase voll hat und ihrem alles andere als gütigen Vater kräftig in die Suppe spucken will. Ein neues Testament muss her. Und dafür braucht es neue Apostel, die Ea unter den Menschen zu finden hofft. Bevor sie aufbricht, spielt sie Gott allerdings noch einen bösen Streich: Heimlich öffnet sie auf seinem Uralt-Computer den Ordner mit den Todesdaten und bringt diese per Kurznachricht in Umlauf. „Deathleak“ ist geboren. Alle wissen nun, wie lange sie noch zu leben haben. Und viele wollen die verbleibende Zeit sinnvoll nutzen. Eine Welt so gar nicht nach dem Geschmack des Allmächtigen, der seiner getürmten Tochter hinterhereilt, damit sie das Chaos schnellstmöglich bereinigt. Ihm selbst gelingt es nämlich nicht.
Schon die Beschreibung der Ausgangslage dürfte Zuschauer, die nichts für blasphemische Scherze übrig haben, bis ins Mark erschüttern. Gott als Arschloch und Familienvater? Warum arbeitet man eine solche Prämisse aus? Ganz einfach: Weil sie für eine originelle Komödie taugt! Davon zumindest dürften Van Dormael und Drehbuchpartner Thomas Gunzig überzeugt gewesen sein, als sie beschlossen, biblische „Wahrheiten“ durch den Kakao zu ziehen. Herausgekommen ist ein surrealistisches Märchen, das religiöse Zeichen und Erzählungen lustvoll und respektlos persifliert, gleichzeitig aber auch christliche Werte wie Mitmenschlichkeit und bedingungslose Liebe feiert. Hoffnung und Zuversicht stiftet hier ausgerechnet das weibliche Geschlecht, das vor allem in der katholischen Kirche noch immer eine schwache Stimme hat. In gewisser Weise lässt sich Das brandneue Testament also auch als kritischer Kommentar auf die patriarchalischen Strukturen der Glaubensapparate lesen. Erst recht, wenn man sich die schöne kleine Wendung vor Augen führt, die der Film zum Ende hin für Gottes Frau bereithält.
Zuvor öffnet allerdings die kleine Ea – von Nachwuchsschauspielerin Pili Groyne herrlich gewitzt und keck verkörpert – die Herzen der sechs ausgewählten Apostel. Menschen, deren Leben festgefahren ist. Die Opfer ihrer Obsessionen sind. Und sich Träume nie erfüllt haben. Was kitschig klingt, wird in Van Dormaels versierten Händen zu einem skurrilen, abgedrehten Bilderreigen, der mit zahlreichen optischen Spielereien aufwarten kann. Ein fliegender Fisch, der „La Mer“ trällert, fließende Übergänge zwischen Gegenwart und Vergangenheit und assoziative Einschübe, die vorher Gesagtes illustrieren – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, was den Film gelegentlich ein wenig ausufern lässt. Erfrischend ist jedoch, dass dem Zuschauer endlich einmal keine wiedergekäuten Ideen, sondern innovativ-verquere Einfälle dargeboten werden. Langeweile kommt so nicht auf, selbst wenn Eas Annäherung an die Apostel – unter anderem Catherine Deneuve als frustrierte Ehefrau, die sich in einen Gorilla verliebt – ein wenig repetitiv erscheint.
Ein Vergnügen sind nicht nur die berührenden Zwischentöne, die Das brandneue Testament bei aller Überzeichnung anstimmt, sondern auch die bisweilen brüllend komischen Situationen, die sich aus der ungewöhnlichen Prämisse ergeben. Beispielsweise sucht ein junger Mann nach dem Versand der Sterbedaten ständig den großen Kick, da er weiß, dass er noch viele Jahre leben wird. Einen absichtlichen Sprung aus dem Fenster übersteht er ebenso wie einen ungebremsten Sturz von einer Brücke. Gottes Berechnungen sind schließlich fehlerfrei! Der mit Abstand witzigste Handlungsstrang kreist um den Schöpfer höchstpersönlich, der sich auf der Suche nach seiner rebellischen Tochter selbst unter das Erdenvolk mischt und die Auswirkungen seiner abstrusen Gesetze am eigenen Leib erfährt. Gut und gerne hätte Van Dormael hier noch etwas weiter ausholen können – das, was er uns zeigt, ist allerdings schon äußerst köstlich. Etwa das Gespräch mit einem Priester, der, von Gott provoziert, vollends die Beherrschung verliert. Wer hier nicht lachen mag, ist selber schuld – meint zumindest der Autor dieser Zeilen, der auf eine lange Karriere als Messdiener zurückblicken kann.