Belgien 2011 · 129 min. · FSK: ab 16 Regie: Michaël R. Roskam Drehbuch: Michaël R. Roskam Kamera: Nicolas Karakatsanis Darsteller: Matthias Schoenaerts, Jeroen Perceval, Jeanne Dandoy, Barbara Sarafian, Tibo V u.a. |
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Männertoilette |
Eine Morgenlandschaft, ein Waldrand, eine Wiese im Nebel. Aus dem Off erzählt eine Stimme vom Leben der Männer und der Wiederkehr des Verdrängten. »Egal, was man tut: Man ist verdammt«, schließt diese Stimme, und die Höllenfahrt beginnt. Immer wieder sieht man den flämischen Himmel, im prächtigen Lichtspiel des Sonnenlichts zwischen Wolken, so wie ihn schon die Maler im 17. Jahrhundert festhielten. Was darunter liegt, auf dem flachen Land, ist weniger prächtig: Bedrohung und Härte, ein proletarisches Landleben – sie sind nicht arm, die Bauern, die Michael R. Roskam zeigt, nur primitiv. Bildungslücken und fehlenden Anstand machen sie durch Körperkraft wett. Eine Männerwelt, man isst andauernd Fleisch in riesigen Massen, geht zu Nutten, macht Bodybuilding, und das Testosteron, das man nicht selber nimmt, gibt man den Rindern, damit sie schneller wachsen und man sie dann noch günstiger an die Fleischmafia vertickern kann. Auch Autos sind hier die Verlängerung männlicher Muskeln, Pistolen sowieso. Als eines Tages eine von ihnen benutzt wird, und ein Polizist, der wegen illegalen Fleischhandels ermittelte, ermordet aufgefunden wird, geraten die festgefügten Verhältnisse allerdings in Bewegung.
Roskam wurde durch mehrere preisgekrönte Kurzfilme bekannt. Sein Debüt Bullhead ist halb europäischer Thriller in bester Film Noir-Tradition, halb Milieustudie. Eine den Dardennes abgeschaute bewegte Kamera (Nicolas Karakatsanis) ist den Figuren dicht auf den Fersen, von hinten, von der Seite, begleitet sie auf ihren endlosen Wegen durch den Lehm der Felder, den Matsch aus Dung und Stroh auf den Stallböden, verfolgt sie zwischen Lastwagen, in denen sie Fleisch verschieben, in den billigen Innenräumen von Restaurants, Stadiontoiletten oder Autowerkstätten. Doch immer wieder nimmt sie sich dann zurück, weitet den engen Blick und lässt die Atmosphären der Räume – es sind gerade in all ihrer Banalität und Alltäglichkeit tolle Orte, die der Film aufsucht – einfach wirken. Man meint sie riechen zu können, diese fremde, faszinierend-schreckliche Welt.
In ihrem Zentrum steht Jacky, ein Klotz von einem Mann. Wir sehen ihn, wie er zuhause vor dem Spiegel die Muskeln spielen lässt, wir begreifen schnell, dass hier alle vor ihm Respekt haben, weil er nicht lange fackelt, weil er »Eier hat«. Auch Jacky ist Rinderzüchter, er hat Verwandtschaft, gehört ganz dazu zu dieser Welt – aber eben auch nicht. Früh schon ist zu ahnen, was irgendwann Gewissheit wird: Es gibt da etwas in Jackys Vergangenheit, das er verdrängt hat, was sich aber dauerhaft nicht verdrängen lässt. Dass der Körper sozial sei, das sagt man gern so dahin, aber an Jackys Körper wird irgendwann augenfällig, dass das Private auch das Biopolitische ist – der Mann, dessen verletzlichen Kern Matthias Schoenaerts sensibel aus der Muskelmasse herausarbeitet, steht permanent kurz vor der Explosion; die Zündschnur dazu haben vor langer Zeit andere gelegt. Doch im wilden Stier verbirgt sich die gepeinigte Seele eines traurigen, einsamen Menschen, eines Kindes, das Opfer war und als Mann nun schuldlos schuldig wird.
Geduldig und ausgewogen entfaltet Roskam die Abgründe dieser Psyche, und liefert zugleich ein unerbittliches Portrait seiner belgischen Heimat, in dem unaufdringlich allerlei bekannte Abgründe präsent sind: Kinderschänder und moralische Korruption, Nationalitätenstreit und politisches Versagen – ein andauernder Selbstverrat. Der Film wirkt wie der Blick auf das innerlich zerstörte Land durch ein Vergrößerungsglas – darin ähnelt er anderen belgischen Filmen, und bestätigt ein weiteres Mal die bekannte Erfahrung, dass soziale oder politische Krisen für die Kunst oft ein Segen sind. Dass Bullhead tatsächlich auch in Teilen authentische Hintergründe der belgischen Hormonmafia, eines Fleischskandals und der Ermordung eines Veterinärs Mitte der 1990er Jahre verarbeitet, spielt für dieses hervorragende Spielfilmdebüt trotzdem nur am Rand eine Rolle. Unter der Haut der Kriminalgeschichte liegt die Tragödie eines Menschen.