USA 2016 · 120 min. · FSK: ab 12 Regie: Matt Ross Drehbuch: Matt Ross Kamera: Stéphane Fontaine Darsteller: Viggo Mortensen, Frank Langella, George MacKay, Samantha Isler, Annalise Basso, Nicholas Hamilton u.a. |
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Großartiger Lehrer oder übergriffiger Vater? |
Erziehungsmethoden sind heute so zahlreich wie die individualistischen Nischen, die sich ein jeder im Glauben an das einzig Wahre in sich erkämpft hat. Die gesellschaftlichen Schnittmengen werden dabei immer geringer. Allein der Versuch, den Geburtstag seines Kindes mit einem Film zu feiern, kann einen in den schieren Wahnsinn treiben. Mit ziemlicher Sicherheit melden sich im Vorfeld zwei Drittel der Eltern der eingeladenen Kinder und wollen wissen, um welchen Film es sich handelt. Und hat man die Katze aus dem Sack gelassen, ist Murren und Gähnen gleichermaßen groß. Die einen schicken ihre Kinder erst nach dem Film zum Kuchenessen, weil ihre Kinder bis zum Alter von zwölf Jahren Medienverbot hatten und von da an jeder Film traumatisierend sein könnte, die anderen lachen nur müde und beklagen sich über die altbackene Filmauswahl. Aber weder über das eine noch das andere kann man sich wirklich ärgern, denn die Freiheit, keinem gesellschaftlichen Kanon folgen zu müssen und die reifen Früchte der 68er-Bewegung sammeln zu dürfen, ist im Grunde unantastbar.
Wie weit wir mit dieser eigenen Erlösung dabei gehen können, ist uns selbst meist kaum bewusst, es sei denn, wir haben Freunde, die die Grenzen des »Normalen« überschreiten. Oder wir sehen uns einen Film wie Captain Fantastic an. Matt Ross, der für die Regie seines Films im Rahmen von »Un Certain Regard« in Cannes (2016) den Preis für die beste Regie bekam, erzählt in Captain Fantastic die Geschichte von Ben Cash (Viggo Mortensen), der seine sechs Kinder in der Abgeschiedenheit der Wälder des amerikanischen Nordostens groß zieht und dabei ein beeindruckendes pädagogisches Spektrum abdeckt: weder werden wissenschaftliche Ideen wie die von Chomsky vernachlässigt, noch musische Qualitäten oder ein extremes körperliches Survival-Training. Diese immer wieder überraschend präsentierte Idylle wird jedoch recht schnell in einen »Culture Clash«-Road-Movie überführt, als Ben erfährt, dass sich seine Frau umgebracht hat; wegen bipolarer Störungen hatte sie sich aus den Wäldern verabschiedet und in eine Klinik überweisen lassen. Der Weg zum Begräbnis ist auch eine Reise in ein anderes Amerika; eines, das vor allem den Wert der Freiheit zunehmend dem Wert der Sicherheit unterordnet. Damit scheint sich Captain Fantastic ideologisch einem politischen, das Gefängnis des virtuellen Alltags anprangernden Blockbusters wie Jason Bourne überraschend anzunähern, doch geht Matt Ross erheblich weiter.
Denn Captain Fantastic zeichnet sich neben seinen überragenden schauspielerischen Leistungen vor allem dadurch aus, dass er sich bis kurz vor Ende fast jeder fixen ideologischen Zuordnung entzieht. Immer wieder überrascht der Film mit Kehrtwendungen und einer Ambiguität, die ein wenig an Maren Ades Toni Erdmann erinnert, und es wird nie ganz ausgedeutet, was Ben wirklich ist: ein großartiger Lehrer, der seinen Kindern das Geschenk von ewiger Neugier und Freiheit mitgibt oder ein übergriffiger Vater, der auf Kosten seiner Frau und seinen Kindern den irren Traum einer verqueren Hippie-Moral lebt. Diese Dynamik verstärkt Ross zum Ende noch einmal, um sie mit einer vielleicht etwas zu leichtfüßigen, einem emotionalisierten Happy End geschuldeten letzten Wendung aufzulösen. Aber im Grunde ist auch das stimmig, ist selbst der Kompromiss, den Ross in seinem wunderschönen und klugen Film andeutet, eine Überraschung und nicht das Ende vom Lied: I see my light come shining / From the West unto the East / Any day now, any day now / I shall be released... (I Shall be Released, The Last Waltz-Version)
»Wir verspotten niemanden.« – »Außer Christen!« Captain Fantastic
Sie jagen, sie fischen, sie pflücken, was ihnen so auf dem Weg durch die Wälder des pazifischen Nordwesten begegnet; sie leben nachhaltig und vollkommen unabhängig, und sind ganz viel an der frischen Luft. Sie säen nicht, sie ernten nicht, und der himmlische Vater ernähret sie doch. Nieder mit dem Konsumterror! Schluss mit dem Kapitalismus! Nie wieder Zwänge! Nie wieder Materialismus!
Ben, ein Mann mit langem Bart und etwas aus der Mode gekommenen Seventies-Klamotten ist ein sympathischer Rechthaber. Mit seiner Frau Leslie und ihren fünf Kindern leben sie im Wald, abseits der Gesellschaft. Doch dann stirbt Mutter Leslie. Allein schafft Ben das nicht mehr. Zumal sich nun der Vater der Verstorbenen, der strenge Opa, in das Leben der Familie einmischt. Es droht die Vertreibung aus dem selbstgeschaffenen Paradies.
Zuvor zeigt Matt Ross' Film Captain Fantastic aber erst einmal, wie Ben mit seinen Kindern lebt. Die Gattin hatte, auch als sie noch am Leben war, nicht viel zu melden, sondern blickte blind bewundernd zu Pascha Ben auf. Viggo Mortensen spielt diesen Vater als charismatische Patriarchen-Figur, wenn auch eine der wohlmeinenderen Art.
Paradoxerweise besteht gerade dieser linkslibertäre Anarchist auf strenger Disziplin. Die Kinder wirken sämtlich wie kleine Rekruten, die der Vater in jedem Lebensdetail streng kommandiert. Sie teilen seine Weltsicht, denn eine andere kennen sie gar nicht. Also plappern sie Vaters plumpe Phrasen nach wie Roboter.
Was ist Coca Cola? »Dreckiges Wasser«, na klar. Was sind Oma und Opa? »Faschisten«, was sonst? Was sind Faschisten? »Agenten des Großkapitals«.
»Einmal Wildnis und zurück« heißt jetzt der amerikanische Film Captain Fantastic im deutschen Untertitel – die Filmverleiher lieben es hierzulande immer übereindeutig; offenbar misstraut man seinem Publikum so sehr, dass man den Film schon im Titel erklären möchte, damit keiner mehr durch irgendetwas überrascht wird.
Anders leben als die Masse, wer will das nicht? Rebellieren, opponieren, Widerstand leisten, und irgendwann der ach so schrecklichen, ach so drückenden Zivilisation den Rücken kehren und irgendwo das »ganz Andere« wagen – spätestens seit 250 Jahren, seit mit dem Jean-Jacques Rousseau zugeschriebenem Ruf »Zurück zur Natur!« das Zeitalter der Aufklärung erschüttert wurde und er die Unschuld des Wilden gegen die vermeintlichen Sünden der Kultur ausspielte, gehört der indiskrete Charme der Anarchie zum Leben der Moderne. Auch die Filmgeschichte ist voller Charaktere, die versuchen, ein anderes Lebensmodell fern moderner Werte und Hygienestandards auszuprobieren – und dabei oft genug scheitern.
Der tiefere Sinn von Ross' Film ist nun allerdings nur eine andere Form von Ideologie: Nämlich die des modernen »american way of life«. Captain Fantastic will seinem Publikum vorführen, dass Gesellschaft, zumal die US-amerikanische, zwingend notwendig und die beste aller möglichen ist. Dass der Traum von gesellschaftsferner Unabhängigkeit und einem von den Ideen Rousseaus und Thoreaus inspirierten Leben in den Wäldern eng verflochten ist mit den
uramerikanischen Ideen der US-Gründerväter, denen im 17. Jahrhundert ein Leben fernab der sündhaften Zivilisation Europas vorschwebte. Dass dieser Traum zwar charmant und für manche verführerisch sein mag, dass er aber heute zum Scheitern verurteilt ist. Dass er auch gar nicht wünschenswert ist, weil derartige Utopien exzentrische bis terroristische Züge haben.
Das mag ja sogar alles sein, aber muss diese Aussage einem so kritiklos und stilistisch plump serviert
werden?
Captain Fantastic ist ein zwischendurch immer wieder sehr lustiger Film, der gut unterhält. Sobald man aber anfängt, ihn ernst zu nehmen und über ihn nachzudenken, handelt es sich um höchst konventionellen, kitschigen und biederen Hollywood-Mainstream. Ross tendiert zur Verklärung der Familie und zur versöhnlichen Auflösung aller Konflikte.
Die größten Aussteiger sind die allergrößten Spießbürger – dies ist alles in allem die Botschaft dieses Films. Das ist dann doch allzu schlicht und viel zu ideologisch. Da werden selbst einem Anti-Rousseauisten die echten Aussteiger plötzlich sympathisch.