Call Jane

USA 2022 · 122 min. · FSK: ab 12
Regie: Phyllis Nagy
Drehbuch: ,
Kamera: Greta Zozula
Darsteller: Elizabeth Banks, Sigourney Weaver, Chris Messina, Kate Mara, Wunmi Mosaku u.a.
Filmszene »Call Jane«
Nur gemeinsam sind wir stark...
(Foto: DCM)

Doppelmoral, verrecke!

Aus dem sperrigen Abtreibungs-Thema ein historisch fundiertes Feelgood-Drama schaffen, kann wohl nur das amerikanische Arthouse-Kino. Phyllis Nagys Film überzeugt aber auch darüber hinaus

Man muss ja gar nicht so weit wegschauen wie nach Amerika, wo die poli­ti­sche Instru­men­ta­li­sie­rung des Rechts auf Abtrei­bung den Midterm-Wahlen ja eine ganz neue Dynamik gegeben hat. Nein, man kann tatsäch­lich in Deutsch­land bleiben, denn soviel besser sind die Verhält­nisse erstaun­li­cher­weise auch hier nicht: »Nach einer Recherche von Correctiv.Lokal und der Initia­tive FragDenS­taat gaben nur 57 Prozent der öffent­li­chen deutschen Kran­ken­häuser mit gynä­ko­lo­gi­scher Abteilung an, Schwan­ger­schafts­ab­brüche durch­zu­führen«, schrieben vor ein paar Wochen Anastasia Trenkler und Marvin Wenzel im Tages­spiegel+ und werden im Folgenden noch präziser: »Das gilt für die medi­zi­ni­sche und krimi­no­lo­gi­sche Indi­ka­tion. Nach der Bera­tungs­regel sind es weniger als 40 Prozent. In Bayern ist die Situation besonders düster. Dort gaben neun von 83 öffent­li­chen Kliniken an, ein solches Angebot zu haben, so die Recher­che­er­geb­nisse. Bei katho­li­schen Einrich­tungen werden Schwan­ger­schafts­ab­brüche nur im äußersten Notfall durch­ge­führt. Etwa zur Rettung des Lebens der Mutter. Aus dem christ­li­chen Selbst­ver­ständnis resul­tiert auch, dass die Caritas-Bera­tungs­stellen seit dem Jahr 2000 bei der Schwan­ger­schafts­kon­flikt­be­ra­tung keine Bera­tungs­scheine mehr ausstellen dürfen. Auch die Strei­chung von Paragraf 219a, der es Mediziner bis vor kurzem straf­recht­lich verbot, über das Durch­führen von Schwan­ger­schafts­ab­brüchen zu infor­mieren, bedauerte die Caritas.«

Also auch in Deutsch­land ist es schon fast wieder soweit, dass frau den Bundes­staat, pardon, das Bundes­land wechseln muss, um ihr Recht auf Abtrei­bung wahr­zu­nehmen. So wie in den 1980er Jahren, als Bremen eines der wenigen Bundes­länder war, in dem eine Abtrei­bung aus freien Stücken und ohne große Indi­ka­tion möglich war. Was das für die einzelne Frau bedeutet, möchte sich niemand vorstellen, allein schon die Bera­tungen, vom »falschen« Träger ausge­führt, können beklem­mend sein. Wie beklem­mend, dafür muss man sich wie so oft dann auf das ameri­ka­ni­sche Inde­pen­dent-Kino verlassen, wie den großar­tigen Niemals Selten Manchmal Immer von Eliza Hittman, der vor zwei Jahren in die deutschen Kino kam und die perfide Doppel­moral einer Gesell­schaft und das tragische Dilemma ihrer Opfer nicht besser hätte beschreiben können.

Hatte sich Eliza Hittman auf die absolute Gegenwart konzen­triert, geht Phyllis Nagy in Call Jane den Weg, die Gegenwart über die Vergan­gen­heit zu hinter­fragen. Dafür begibt sie sich ins Jahr 1968 nach Chicago, und porträ­tiert einige der Frauen, die das ameri­ka­ni­sche Recht auf Abtrei­bung überhaupt erst erstritten haben. Zu einer Zeit, als natürlich nicht nur Chicago, sondern die ganze westliche Welt von gegen­kul­tu­rellen Werten geflutet wurde und sich Amerika auch durch den Viet­nam­krieg in einem fast schon hyste­ri­schen Dauer­alarm­zu­stand befand.

Nagy umreißt diese Situation in wenigen Momenten sehr präzise. Sie lässt ihre Heldin Joy (Elizabeth Banks), die aus einem klas­si­schen, weißen Mittel­klasse-Vorort kommt, zufällig die Straßen­schlachten beob­achten, die im Sommer 1968 während des Partei­tags der Demo­kraten in Chicago ausbra­chen und nicht nur die Partei, sondern fast auch die Stadt zerrissen. Davon will Joy aber erst einmal gar nichts wissen. Erst als bei ihr wenig später eine Kompli­ka­ti­ons­schwan­ger­schaft diagnos­ti­ziert wird, das Kran­ken­haus und der Arzt ihres Vertrauens ihr aber klar machen, dass sie damit wahr­schein­lich sterben wird müssen, da eine legale Abtrei­bung selbst bei dieser Indi­ka­tion nicht möglich ist, gerät Joys Weltbild langsam ins Wanken. Auf der Suche nach Alter­na­tiven wird sie bei den »Janes« fündig, einer im Unter­grund operie­renden Frauen-Orga­ni­sa­tion, die Joy eine sicherere Alter­na­tive anbietet, eine Alter­na­tive, die jedoch auch ihre bis dahin wert­kon­ser­va­tive Posi­tio­nie­rung hinter­fragt.

Da Phyllis Nagy sich im Vorfeld genug Zeit lässt, den Alltag von Joy mit ihren Kindern, ihrem Mann und den etwas gelang­weilten Frauen der Nach­bar­schaft zu skiz­zieren, wird ihr Dilemma, mit diesem Leben zu brechen, sehr plausibel, auch wenn die christ­lich-konser­va­tiven Werte bereits sichtlich ausgehöhlt sind. Aber das hat ja bis heute nichts zu sagen, nimmt ja gerade eine herr­schende Moral in Bedrängnis gerade dann wieder besonders an Fahrt auf, wenn sie – wie ein wildes Tier – verletzt ist und um sich schlägt; während der 1968er nicht anders als in unseren Zeiten des poli­ti­schen Popu­lismus, ein Bogen, den Nagy fast nebenbei spannt. Denn die verzwei­felte, einsame Suche der Frauen nach einer Möglich­keit abzu­treiben, sieht in diesem Film, in dieser Zeit nicht anders aus als 50 Jahre später in Niemals Selten Manchmal Immer.

Doch im Kern ist Nagys Film natürlich ein histo­ri­scher Film, und in seiner Zeit verankert, führt Nagy über die Gruppe der »Janes« in alle gesell­schaft­li­chen Schichten der damaligen USA ein, bügelt ein wenig zu sehr die medi­zi­ni­schen Gefahren der Abtrei­bungen glatt, seziert dafür aber nicht nur die erdrü­ckende frauen-feind­liche Moral der ameri­ka­ni­schen Gesell­schaft, sondern demons­triert auch die mora­li­schen Schwach­stellen der Gruppe selbst und ihrer Leiterin Virginia, die mit Sigourney Weaver nicht besser hätte besetzt werden können. Nichts­des­to­trotz wird aber über­deut­lich, dass eine Soli­dar­ge­mein­schaft bei aller (Selbst-) Kritik am Ende nicht nur moralisch der Gewinner ist, sondern tatsäch­lich das Instru­ment sein kein, um syste­mi­sche Barrieren zu sprengen und mora­li­sche Tanker­men­ta­li­täten aufzu­wei­chen.

Wie schon in ihrem großar­tigen Drehbuch für Todd Haynes Carol gelingt es Nagy bei aller sozio-histo­ri­scher Grun­die­rung auch in diesem Drehbuch – dieses Mal aller­dings ganz ohne Patricia Highsmith – und mit souver­äner Regie, ein Tabuthema nicht nur thetisch bloß­zu­legen, sondern mit plas­ti­schen, diversen Charak­teren und hervor­ra­genden Dialogen drama­tisch so anzu­rei­chern, dass am Ende nicht nur die simple Genug­tuung bleibt, ein Stück düstere Zeit­ge­schichte über eine höchst emotio­nale Erzählung besser verstanden zu haben und sich über ein vorü­ber­ge­hendes Happy End freuen zu können – nein, vielmehr schärft Nagy durch den ernüch­ternden Abgleich mit der Gegenwart auch das Bewusst­sein dafür, dass jeder Sieg nur temporär sein kann, aber nicht nur in diesem Fall Akti­vismus und gemein­schaft­li­ches Handeln der Schlüssel zum Erfolg sind. Bei den »Janes« der Vergan­gen­heit nicht anders als bei den »Janes« unserer Gegenwart. Die ameri­ka­ni­schen Midterm-Wahlen haben das einmal mehr anschau­lich bewiesen.