Carol

Großbritannien/USA/F 2015 · 119 min. · FSK: ab 6
Regie: Todd Haynes
Drehbuch:
Kamera: Edward Lachman
Darsteller: Cate Blanchett, Rooney Mara, Sarah Paulson, Kyle Chandler u.a.
Liebesgeschichte, Klassenkonflikt und Generationenkonflikt

Eine freie Radikale

Ein Film der vielen Karos, der gedeckten Pastell­farben, der schweren Pelz­mäntel, edlen Möbel und präch­tigen Stoff­muster. Wie schon Far from Heaven (2001) taucht Todd Haynes ein in die Welt wohl­si­tu­ierter bürger­li­cher Frauen aus den 1950er Jahren des ameri­ka­ni­schen Jahr­hun­derts. Alles erscheint darin schöner, zumindest nost­al­gisch erfül­lender, als heute: Die Autos, die Musik, die Mode. In nahezu jeder Szene tragen die beiden Haupt­dar­stel­le­rinnen Cate Blanchet und Rooney Mara eine neue wunder­schön gemus­terte Seiden­bluse.

Doch diese Pracht hat hässliche Flecken: Unter den schönen Objekten verbergen sich unter­drückte Leiden­schaften und Frei­heits­willen, vor allem aber verhüllen sie die Härte der Konven­tionen, in denen das Leben der Menschen wie in einem stäh­lernen Korsett gefangen ist – denn der Film spielt in der Jahres­wende 1952/53, ganz zu Beginn der Eisenhower-Jahre, in denen die Verei­nigten Staaten so selbst­ge­recht waren, wie nie zuvor, und in denen es in Moral­fragen in etwa so zuging, wie heute im Iran.

Mit der Pop-Hymne Velvet Goldmine (1998), dem Melodram Far from Heaven (2001) und dem origi­nellen Bob-Dylan Biopic I’m Not There (2007), in dem der Musiker von gleich sechs verschie­denen Darstel­lern verkör­pert wurde, hat sich der Ameri­kaner Todd Haynes einen guten Namen erworben.
Seit Haynes Filme macht, wird sein Werk vom Vorwurf des Ästhe­ti­zismus, dem Schwelgen in Schönheit um jeden Preis, begleitet. Zu Recht, nur dass dies eben kein Vorwurf ist. Haynes ist auch längst nicht der einzige Regisseur, der auch als Erwach­sener am liebsten mit Puppen spielt, und ihnen immer neue hübsche Kleidchen anzieht, und noch hübschere Puppen­stu­ben­häuser baut. Tatsäch­lich finde ich es eigent­lich etwas schade, dass es in den letzten Jahren fast immer nur schwule Regis­seure sind, die sich mit der Ausstat­tung so viel Mühe geben, wie ihr tatsäch­lich gebührt. Können die Heteros das nicht, oder trauen sie es sich nicht?

Haynes gibt sich aller­dings auch sonst viel Mühe. Die Musik, obschon oft nost­al­gi­sche Musik aus der Zeit, in der alles spielt, stammt von Carter Burell, die großar­tigen Bilder von Ed Lachman, dem es auf zauber­hafte Weise gelingt, zwar immer nur eine Seite des Raums zu zeigen, uns die anderen drei aber mit spüren zu lassen, und so ohne Sog-Effekt in den Film hinein­zu­ziehen.

Carol ist ein sensibler Liebes­film, der völlig um seine beiden Darstel­le­rinnen gebaut ist. Dies ist dabei ganz und gar Rooney Maras Film. Mit ihrer Leben­dig­keit in aller Zurück­hal­tung stellt sie die doch hier arg statu­en­haft und masken­haft wirkende Cate Blanchett in den Schatten. Das ist auch eine Regie­leis­tung, denn wir sollen uns mit ja Therese iden­ti­fi­zieren, nicht mit Carol. Therese ist die eigent­liche Haupt­figur des Films.
Dies ist auch aus anderen Gründen nicht Blanchets Film. Sie sieht nicht nur immer marmorner aus, und hat außerdem, so scheint es, etwas zu kräftig abge­nommen. Sie ist hier vor allem zu sehr Diva, zu sehr Hollywood-Heldin, zu sehr eine Tussi, die immer recht hat, immer alles richtig macht, immer klug und weise und bescheid­wis­se­risch ist, selbst wenn sie darunter leidet – aller­dings auch das noch zu ihrem und aller Besten.

Vorlage ist der Roman »The Piece of Salt« von Patricia Highsmith über eine lesbische Liebes­be­zie­hung, in dem die Autorin auch ihr eigenes Erleben verar­beitet. Verändert wurde hier vor allem der Beruf der Figur Therese, aus deren Perspek­tive der Film erzählt ist. Statt Bühnen­bild­nerin ist sie hier Photo­gra­phin, wie zu jener Zeit die Highsmith selber, die sich viel­leicht mit der Verän­de­rung nur tarnen wollte.

Aller­dings: Warum nur muss man eigent­lich heute einen Film über den Tugend­terror der 50er Jahre machen? Um zu sagen, dass Amerika immer schon viel unfreier war, als es die großen schönen Lügen vom ameri­ka­ni­schen Traum sugge­rieren?
Haben wir heute nicht zumindest diese Probleme über­wunden? Gibt es nicht heute wirklich Wich­ti­geres, als Gleich­be­rech­ti­gung für Lesben, wo diese doch längst – außer in den Köpfen von ein paar Voll­idioten – gleich­be­rech­tigt sind?
Man kann bei Carol weniger einwenden, als nach­fragen, warum Haynes sich für seine Geschichten immer wieder die 50er Jahre aussucht, also ausge­rechnet die repres­sivste Ära Amerikas? Ist das nicht etwas billig, ein Popanz, der leicht immer aufs Neue zu besiegen ist? Die Fifties haben eine tolle Ästhetik. Aber sie waren gerade in sexuellen Dingen viel unfreier als die Jahr­zehnte davor und danach. Warum also? Weil die Vorlage in dieser Zeit spielt? Diese Antwort ist zu banal.

Die eigent­liche Handlung des Films ist schnell erzählt: Carol, eine gutsi­tu­ierte Ehefrau aus besseren Osküs­ten­kreisen verliebt sich in die Kauf­haus­ver­käu­ferin Therese, die von einer Karriere als Photo­gra­phin träumt. Nach zöger­li­cher Annähe­rung brennt sie zunächst mit Therese über Sylvester geradezu durch, und verführt sie nach allen Regeln der Kunst. Kurz darauf aber verlässt sie sie Hals über Kopf. Grund sind die Recher­chen eines Privat­de­tek­tivs, der »eindeu­tige Beweise« für Carols Frauen-Affairen gesammelt hat. Die sollen als Munition in Carols angän­gigem Schei­dungs­ver­fahren dienen, in dem vor allem Carols Sorge- und Besuchs­recht für die gemein­same Tochter auf dem Spiel steht.
Carol reist also nach einem entspre­chenden Telegramm ihres Mannes (oder Anwalts) Hals über Kopf ab und spielt in den nächsten Wochen die reumütige Ehefrau, die sich auf psycho­the­ra­peu­ti­sche Behand­lungen einlässt, um ihre »Verwir­rungen« zu kurieren. Den Kontakt mit Theresa bricht sie komplett ab. Diese wird mangels Führer­schein von einer Freundin abgeholt, und nach Hause kutschiert, und erhält ein paar Tage nach der ersten Erschüt­te­rung einen Brief Carols. In dem wird ihr ziemlich von oben herab erklärt, was gut für sie sei, und dass Carol schon die richtigen Entschei­dungen getroffen habe, auch gerade in Theresas Sinne, und das sie das schon noch eines Tages selbst einsehen werde, einst­weilen sei sie dazu wohl noch ein bisschen jung. »I release you!« Als ob sie eine Gefangene wäre.

Theresa fängt sich dann irgend­wann wieder und beginnt eine Karriere als Photo­gra­phin, als eine Frau in einer Männer­welt. In der letzten Vier­tel­stunde des Films geschieht dann Folgendes: Irgend­wann erhält Therese eine Nachricht Carols, die sie zum Tee bittet. Zögerlich nimmt sie an, ist bei diesem Treffen auch reser­viert, und lehnt die Einladung zum späteren Abend­essen dann erst einmal ab. Alles bleibt kühl und verhalten, und als Theresa eine Party von Gleich­alt­rigen besucht, soll man schon glauben, dass sich beide nie wieder­sehen werden. Doch dann verlässt Theresa die Party, und geht zu dem Essen in einem Nobel­re­stau­rant. Sie sieht Carol am Tisch, blickt erleich­tert und glücklich, und dann entdeckt auch Carol sie und schaut – weniger erschüt­tert, als huldvoll lächelnd, wie eine Siegerin...

Was soll das nun sein? Ein Happy End? Ich vermute, so verstehen es 80 Prozent der Zuschauer. Auch ich dachte erst, dass es so gemeint sei. Doch manchmal ist es gut, über einen Film länger nach­zu­denken – im Ergebnis ist dies für mich nämlich kein Happy End, sondern das Unhappy End des Melodrams. Ein Unter­wer­fungsakt.
Therese opfert ihre Freiheit für die Passion – oder sollen wir es Liebe nennen? –, der sie nicht wider­stehen kann.

Denn was ist mit Carol? Sie wirkt, das habe ich beschrieben, den ganzen Film über wie eine Königin, eine Großbür­gers­frau, sie verhält sich Theresa gegenüber nicht von gleich zu gleich auf Augenhöhe, sondern von oben herab, wie zu einer Dienst­botin. Sie nimmt sie sich. Sie spielt mit ihr. Sie macht ihr Vorschriften, achtet sie nicht. Sie ist herrisch, herrschsüchtig, launisch, sie hat alle Allüren eines weib­li­chen Machos und steht damit ihrem Gatten, dem kurz­ge­scho­renen All-American-Man und Reprä­sen­tanten des Main­stream der 50er-Jahre-Werte­ord­nung und ihres Geschmacks weitaus näher als der jungen Rebellin Therese.

Therese ist in diesem Film nämlich viel mehr, als nur ein junges Mädchen, das ihr lesbi­sches Coming-out haben soll. Sie ist vielmehr eine junge Frau, die sich in jeder Hinsicht (!) zu befreien sucht, eine Künst­lerin und Intel­lek­tu­elle, die sich diese Identität noch nicht einge­steht. Eine Reprä­sen­tantin jener jüngeren Gene­ra­tion, von der Haynes bereits in I’m Not There erzählte, jener Gene­ra­tion, die acht Jahre später Kennedy wählen und dann gegen Vietnam und Rassismus rebel­lieren wird. Sie ähnelt Simone de Beauvoir und Silvia Plath nicht weniger, als äußerlich Audrey Hepburn. Und wenn Theresa mit ihrem Haarreif Audrey Hepburn etwas ähnlich sieht und wohl auch sehen soll – so einen Haarreif, liebe Freunde der Mode, trugen aller­dings auch Simone de Beauvoir und Francoise Sagan –, dann nicht der jungen Film-Hepburn der 50er mit ihren Prin­zes­sin­nen­träumen, und auch nur am Rand – aber schon eher – der konsu­mis­ti­schen Popfigur und Gele­gen­heits­pro­sti­tu­ierten Holy in Breakfast at Tiffany’s. Sondern sie ist am ehesten der selbst­be­wussten Erzie­herin in William Wylers The Children’s Hour nach­emp­funden. Einer Frau, die sich ihrer lesbi­schen Ausrich­tung noch keines­wegs sicher ist – sehr wohl aber ihrer Souver­änität und Freiheit, die sie sich vom Tugend­terror der Puritaner nicht abkaufen lassen möchte.

Um Souver­änität und Freiheit geht es viel mehr als um Iden­ti­täten, seien sie nun sexuell oder anders. Genau aus diesem Grund ist  Carol, der auf den ersten Blick ein Produkt reinen Ästhe­ti­zismus ist – schön anzusehen, aber nix dahinter –, auf den zweiten Blick tatsäch­lich ein schmerz­haftes Melodram in der Tradition derje­nigen von Douglas Sirk, die Haynes so sehr bewundert und so unum­wunden zitiert.

Insofern macht es großen Sinn, dass Haynes seinen Film über den Tugend­terror in den 50er Jahren ansiedelt, die uns sonst doch so fern stehen: Denn Todd Haynes weiß um all das. Er weiß, dass dies nicht nur eine Liebes­ge­schichte ist, sondern auch ein Klas­sen­kon­flikt, und ein Gene­ra­tio­nen­kon­flikt. Haynes weiß und zeigt, dass diese beiden nicht zu lösen sind durch Luft und Liebe. Zumal hier in der »Liebe« sich auch ein Liebes­verrat verbirgt.
Freiheit vollendet sich nicht in Liebe, sondern kann von ihr auch getötet werden.