Griechenland 2015 · 105 min. · FSK: ab 6 Regie: Athina Rachel Tsangari Drehbuch: Efthymis Filippou, Athina Rachel Tsangari Kamera: Christos Karamanis Darsteller: Panos Koronis, Vangelis Mourikis, Makis Papadimitriou, Yorgos Kendros, Yorgos Pirpassopoulos u.a. |
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Sich entkleiden als Kraftakt |
Es fängt an, fast wie ein James-Bond-Film: Meer, eine steile riesig hohe Felsküste. Aus dem Wasser taucht ganz langsam ein Mann auf. Dann noch einer und noch einer, alle im Taucheranzug, quasi aus dem Nichts und nicht voneinander zu unterscheiden. Sie reden nicht. Man hört nur das Krächzen der Möwen, dann Motorengeräusch und Technomusik. Eine seltsam paranoide Atmosphäre – und ein sehr besonderer, wunderbarer, atmosphärisch stark wirkender Anfang für diesen Film.
Nach wenigen Minuten hat man die Situation verstanden, ist die Konstellation klar. Es sind sechs Männer, Freunde seit Jahren, die hier gemeinsam Urlaub machen, auf einer Luxusjacht schippern sie von Insel zu Insel durch den griechischen Teil des Mittelmeers, rundum betreut vom Kapitän, einem Koch und einem Butler.
Alle sind sie mittleren Alters, alle aus leidlich wohlhabenden Verhältnissen: Einer ist Arzt, einer macht in Werbung, ein anderer »irgendwas mit Medien.«
Die Frauen haben sie zu Hause gelassen, manche telefonieren oder knutschen übers iPad, andere sind froh, mal nichts von der Gattin zu hören.
Ihre Tage verbringen die Sechs mit Baden, Tauchen, Fischen, Bootsfahren, Sport, Yoga und Körperpflege. Abends wird gemeinsam gegessen, nicht zuletzt auch viel Weißwein getrunken, und viel geredet, also: Sprüche geklopft, angegeben, die kleinen Revierkämpfe ausgetragen, wie sie in solch einer Männer-Runde wohl unvermeidlich sind.
Das alles ist außerordentlich gut beobachtet und von seltsam absurder Komik, die aus dieser Beobachtung erwächst, und manchmal durch einen geschickten Blickwechsel oder Kameraschnitt noch gesteigert wird.
Und bei einem dieser Abende geht es dann richtig los: Ein Gespräch eskaliert, und – halb aus Langeweile, halb den ewigen Gesetzen des Hahnenkampfes folgend – beschließen die sechs Freunde beim Austernessen, sich den Rest ihrer Zeit auf dem Boot durch einen Wettkampf zu vertreiben: »Wer ist der Beste?« Ganz grundsätzlich: »Wer ist überhaupt der Beste? Wer ist Chevalier?«
Jeder darf den anderen völlig willkürliche Aufgaben stellen. Wer am Ende gewinnt, ist »Chevalier«, also Ritter und Träger eines dicken Siegelrings. Alles steht auf dem Spiel, alles wird bewertet: »Wie sie lachen, wie sie lächeln, wie sie aussehen, riechen, miteinander reden.« In anderen Aufgaben müssen sie ihre Frauen anrufen – vor allen anderen!
Oder einer muss um Hilfe schreien, wer als erster kommt, hat gewonnen. Psychospiele mischen sich mit Sportaufgaben. Auch vor dem
Messen der Erektionslänge machen die Aufgaben nicht Halt.
Bald kennen wir sie in- und auswendig: Yannis, Christos, Georgios, Dimitri, Nicholas, Josef. Sehr schnell wird aus dem Spiel Ernst, sehr bald eskaliert alles, Schwächen und Stärken, Arroganz und Weinerlichkeit treten deutlicher den je zutage, das Spiel wird zum Katalysator von Charaktereigenschaften.
Athina Rachel Tsangari ist mit Chevalier eine bizarre Komödie geglückt, eine Komödie des Menschlichen, voller Tiefe und bizarrer Ironie. Ein listiges Spiel um Konkurrenz und Männlichkeit. Ausgerechnet eine Frau hat sich hier getraut, was kein männlicher Regisseur sich hätte trauen dürfen: Einen Film ausschließlich mit Männerfiguren zu drehen.
Tsangari ist eine der Führungspersönlichkeiten der »Griechischen Neuen Welle«. Tsangari ist Schauspielerin, Autorin und vor allem Regisseurin. Die Filme dieser kleinen Gruppe sind hochkonzeptionell und hyperrealistisch – gerade durch ihre strukturelle Starre und den autoritären Zug, der ihnen eigen ist, und ihre oft extrem brutalen Szenarien wurden sie aber in den letzten Jahren auch als griechische Antwort auf den Finanzkapitalismus und seine Krisen gelesen,
als Reflex auf die Autorität und Brutalität der eisernen Klauen der EU-Finanzverwaltung und ihrer Richtlinien. Das ist auch, aber längst nicht nur »radical chic«, ein Phänomen von Festivals und
Tsangaris Filme zeigen Menschen, die Regeln und Ritualen unterworfen sind, sie zeigen aber auch die kleinen Fluchten in der großen Kontrollgesellschaft.
Tsangari präsentiert in ihrem dritten Spielfilm wieder alle Eigenheiten dieser griechischen Autorenfilmbewegung: Die Regisseurin zeigt ein soziales System, das nach absurd willkürlichen, aber konsequent angewandten Regeln strukturiert wird, gesteuert wie in einem Orwellschen Staatsgebilde von Ansagen aus dem Off.
So ist Chevalier eine robuste Satire über das auch bei uns um sich greifenden »self tracking«, die Selbstvermessung des ganzen Lebens mit Hilfe von Apps und Smartphones – sozusagen der permanente Schwanzvergleich.
Grundsätzlicher geht es auch um den Kapitalismus der Postmoderne, der auch die eigene Freieit in die Leistungsgesellschaft integriert. Und ans Dschungelcamp darf man denken.
Dies ist vor allem aber eine geradezu geniale Komödie über Männlichkeit und ihre Abgründe im 21. Jahrhundert, eine Komödie, die natürlich einen ernsten Kern hat. Es geht um den Mann an sich, nicht um den mediterranen Mann.
Aber dies ist auch eine hintergründige, sinnbildliche Betrachtung über Griechenland, eine – man mag es dem Rezensenten verzeihen – Macho-Gesellschaft, die hier von einer griechischen Frau einmal sehr liebevoll dekonstruiert wird, und über die großen Jungs in Anzug und weißen, krawattenlosen Hemden, die in der Regierung sitzen und Europa an der Nase herumführen, um ihrem Land im Tsunami der Banken- und Finanzkrisen das Überleben zu sichern.
Eine der schönsten Szenen gehört Minnie Ripertons zeitlosen Song: »Lovin' you«. Sie zeigt, das dies auch ein Liebesfilm ist: Über die Liebe unter sechs Freunden, die lernen, was sie verbindet.