Japan 2001 · 125 min. · FSK: ab 0 Regie: Hayao Miyazaki Drehbuch: Hayao Miyazaki Musik: Joe Hisaishi Schnitt: Takeshi Seyama |
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Chihiro macht mächtig Dampf(bad) |
Das Reich der Fantasie ist eine Investitionsruine: Ein stillgelegter Vergnügungspark aus Wirtschaftsboom-Zeiten, getrimmt auf »Traditionelles Japan«, nun verlassen, verwildert vor sich hinbröckelnd. Die zehnjährige Chihiro und ihre Eltern landen hier, als sie sich beim Umzug von Tokio in einen Vorort verfahren. Aber es gibt ein wahres Leben im Falschen, in diesem Dorf der Illusionen: Die mit Gipsfassaden vorgaukelte Welt, eigentlich nur ohne echten Glauben anzitiert, um
einen schnellen Yen zu machen, wohnt tatsächlich hier – mit ihren etwas aus der Mode gekommenen Göttern und Geistern.
Die Gespenster haben ein üppiges Mahl bereitet, von dem sich Chihiros Eltern verführen lassen. Die Speisen, die sie in sich hineinstopfen, machen sie zum Bild ihrer schlingenden Gier: Sie verwandeln sich in Schweine. Das Mädchen aber findet sich tief in dem verborgenen mythischen Reich wieder. Sie muss zu der Hexe Yubaba vordringen (in der durchaus
respektablen deutschen Synchro übrigens von Nina Hagen gesprochen), die allein den Schlüssel zur Rettung hat. Zunächst aber wird Chihiro nur Hilfskraft in Yubabas Badehaus der Götter, wo sich Riesenbabys, hüpfende Köpfe, Männer mit Spinnenarmen, possierliche Rußtierchen, große Küken, verschlammte Flussgeister tummeln.
Zumeist Gestalten der japanischen Mythologie sind es, die durch dies grandiose Werk des Anime-Meisters Hayao Miyazaki (Mononoke hime) geistern. Wo westliche Zeichentrick-Großproduktionen nur allzu oft das Weltkulturerbe plündern, um es an sich zu reißen und zu globalisieren, die Eigenheiten deutscher Märchen oder chinesischer Legenden nur als exotische Würz-Prise nutzend, traut sich
Miyazaki, das nur lokal Verständliche zu feiern.
Kein Wunder, dass der Film in Japan alle Kassenrekorde brach – verblüfft aber sind oft Japaner, wenn man ihnen erzählt, dass der Film auch im Ausland auf begeistertes Publikum trifft.
Doch Chihiros Reise ins Zauberland funktioniert selbst ohne Verständnis seiner Traditionsbezüge wunderbar (wie die Auszeichnung mit dem Goldenen Berlinale-Bär 2002 beweist), weil man sich an seinem schier endlosen
Reichtum unwirklicher Bilder auch prima erfreuen kann, als seien es bloße Ausgeburten überbordender Fantasie. Westliche Betrachter mögen da eher eine fröhlichere Variante von Hieronymus Bosch entdecken, als einen Pantheon aus der Shinto-Vorstellungswelt.
Diese zwanglose Genießbarkeit auf vielen verschiedenen Ebenen ist vielleicht auch das eigentliche Erfolgsgeheimnis des Films. Für ziemlich jedes Alter und Temperament hält er etwas vorrätig in seiner zarten Ballance von Spiritualität, Surrealismus, Slapstick. So sehr Miyazaki sich derzeit auch bereitwillig zu einer Art Gegen-Disney stilisieren läßt – er scheut sich keineswegs, den amerikanischen Kollegen manchen Trick abzuschauen. Sein Wille zur unterhaltsamen Show
ist nicht geringer; auch er setzt beispielsweise (nicht minder gekonnt) auf lustige, tierische Sidekicks für den kleinen comic relief zwischendurch. Und man täte umgekehrt Disney (zumindest was die Klassiker des Studios angeht) schwer Unrecht, wenn man nicht anerkennte, wie subtil auch dort die Möglichkeiten des Animationsfilms – dieses Zwischendings aus Abbildung und Abstraktion – genutzt werden können, um ganz eigene, stilisierte Welten zu schaffen.
Der große
Unterschied liegt in der Vielschichtigkeit der Weltsicht. Den feinen Strich, die Palette voller Zwischentöne beherrscht Miyazaki nicht nur in den Bildern: Keine simple Schwarz-Weiß-Zeichnung, kein ewig Gutes, Böses. Chihiros Reise ins Zauberland ist, wie die besten authentischen Märchen, voller überraschender Verwandlungen und Maskeraden. Die Titelheldin wird mitsamt dem Publikum in eine Welt geworfen, die anfangs fast kafkaesk wirkt: Nicht nur sind deren
Regeln zunächst unbekannt, müssen gelernt werden – es beschleicht Chihiro und uns des öfteren das Gefühl, dass diese Regeln grundsätzlich obskur sind, dass sie keiner nachvollziehbaren Logik folgen, sich je nach Bedarf ändern. Die Aufgabe der Heldin, die Bewährungsprobe, ist nicht die Überwindung eines Antagonisten, sondern das Zurechtfinden in solch einer schwierigen Welt.
Westliche Animationsfilme, aber nicht minder ein Großteil handelsüblicher Anime, setzen auf eine
Identität von Bild und Bewertung: Sie nutzen die Stilisierungsmöglichkeiten des Mediums, um alle Figuren und Orte auch optisch mit jenen Attributen und Zeichen zu versehen, die ihnen emotional und moralisch zugeschrieben werden sollen.
In Chihiros Reise ins Zauberland jedoch führt ein solches Sehen zu Kurzschlüssen. Die Oberflächen sind sehr trügerisch – wie ja schon am Anfang das altjapanische Dorf ein moderner Fake ist, dann aber hinter der
kommerziellen Illusion plötzlich doch wieder das Authentische steckt. Es ist eine Welt der Trugbilder nicht im Sinne einer boshaften Irreführung – Unrecht tun nur wir Betrachter, wenn wir zu schnell bei der Hand sind mit unserem Urteil: Denn selbst ein finsterer, alles verschlingender Dämon kann sich noch als traurige, mitleiderregende Gestalt entpuppen.