Brasilien/F/USA 2002 · 124 min. · FSK: ab 16 Regie: Kátia Lund, Fernando Meirelles Drehbuch: Bráulio Mantovani Kamera: César Charlone Darsteller: Douglas Silva, Matheus Nachtergaele, Alexandre Rodrigues, Luis Otávio u.a. |
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Löckchen (Douglas Silva) |
Ein Huhn rennt durch die Straßen – kopflos gackernd, flügelschlagend, flüchtet es vor der johlenden, bis an die Zähne bewaffneten Meute. Locke, Anführer der Hühnerjäger und gefürchtetster Drogenboss von Rio, hat sich in den Kopf gesetzt das Federvieh zu schlachten. Und auf wen Locke es einmal abgesehen hat, braucht auf Gnade nicht zu hoffen.
Cidade De Deus – Stadt Gottes – heißt die Favela vor den Toren von Rio – ein zynischer Name für einen trostlosen Ort wie diesen. Wer hier aufwächst, wird sich immer für seinen erbärmlichen Lebensunterhalt abstrampeln müssen – oder er entscheidet sich für eine tödliche Karriere als Gangster. Auch Buscapé, der Sohn des Fischverkäufers, und Dardinho, genannt Löckchen, wollen etwas aus ihrem Leben machen. Buscapé träumt davon, Fotograf zu werden, aus Löckchen wird Locke.
Während Locke sich mit größter Brutalität den Weg zur Alleinherrschaft freischießt, macht Buscapé mit einer Billigkamera Fotos von Strandschönheiten von Ipanema. Für kurze Zeit herrscht trügerische Sicherheit in der Citade, denn Locke sorgt für Ruhe in seinem Revier. Bis er sich eines Tages den falschen Mann zum Feind macht. Über Nacht schart der eine Rotte von schwer bewaffneten Kindern um sich. Ein mörderischer Bandenkrieg entbrennt. Mittendrin: Buscapé, der mit ein paar guten Fotos von der entfesselten Meute plötzlich die einmalige Chance für eine Karriere als Fotoreporter erhält.
Das Duo Fernando Meirelles und Kátia Lund schlägt einen atemlosen Bogen über zwei Jahrzehnte: In Vor- und Rückblenden verknüpfen die Regisseure virtuos unzählige Einzelschicksale zu einer erschütternden Saga. Dabei wird deutlich, wie die Schraube der Gewalt mit jeder Generation schneller und fester angezogen wird: Zunächst sind in den Sechzigern die großen Brüder von Buscapé und Locke noch als romantische Robin Hoods der Vorstädte unterwegs, die Propangaswagen überfielen und die Beute an die Mütter der Siedlung verteilten. In den Achtzigern macht sich bei den Jüngeren schon die pure Lust am Töten breit. Und als Locke sich schließlich auf dem Zenit seiner Macht befindet, drehen hinter seinem Rücken schon die »Zwerge« die ersten brutalen Dinger. Dieser Wandel wird durch die Bildwahl unterstützt: Während die Sechziger in Farben und Einstellungen gedreht sind, die einen Western erinnern, sind die Siebziger rasanter, funkiger und psychedelisch bunt. In der letzten Phase des Bandenkrieges schließlich gefrieren die Farben zu stählernen Blau- und Grautönen und der Schnitt zerheckselt brutal jede Sequenz.
Szenen gibt es in diesem Film, die sich für immer im Gedächtnis einbrennen: Ein heulender Achtjähriger, der vor die Wahl gestellt wird, ob man ihm lieber den Fuß oder die Hand zerschießen soll. Ein anderes Kind lacht irre im Blutrausch seines ersten Amoklaufs. In der Stadt Gottes gibt es weder von noch für die Jüngsten Erbarmen. Einige Filmmomente sind so brutal, dass der Film in Deutschland erst ab 16 freigegeben wird. Wer in den Favelas so lange überleben will, braucht sehr viel Glück.
Paolo Lins hat das geschafft und die Geschichte aufgeschrieben. Gedreht wurde mit den Kindern und Jugendlichen vor Ort, die zwar wissen, wie man eine Waffe hält, aber oft weder Lesen noch Schreiben können. Die Regisseure haben den jungen Experten der Gewalt zugehört. Für viele Szenen gab es nur knappe Regieanweisungen während sich Dialoge und Handlung aus dem Bauch entwickelten. Dies und die rasante Kamera machen den Film so unmittelbar und glaubwürdig. Für Minuten ist der Zuschauer mittendrin in der Welt der Bandenkriege.
Als Buscapé das Ghetto verlässt, steht bereits die nächste Generation von bewaffneten, noch jüngeren Knirpsen bereit, in die Fußstapfen ihrer Idole zu treten. »Ich kiffe, ich schnupfe, ich habe getötet und gestohlen«, prahlt ein Dreikäsehoch, »also bin ich ein Mann!«
Wer diesen Film gesehen hat, wird ihn nicht mehr vergessen.