Clair Obscur

Tereddüt

TR/F/D/PL 2016 · 105 min.
Regie: Yesim Ustaoglu
Drehbuch:
Kamera: Michael Hammon
Darsteller: Funda Eryigit, Mehmet Kurtulus, Ecem Uzun, Okan Yalabik, Emirhan Arikan u.a.
Klassenverhältnisse, die auch Genderverhältnisse sind

Die im Dunkeln sieht man nicht

Ein Küstenort an der türki­schen Schwarz­meer­küste, es hat einen schweren Sturm gegeben und Unfall­opfer werden ins Kran­ken­haus einge­lie­fert. Unter ihnen ist Elmas, eine junge Frau, deren Mann und Schwie­ger­mutter bei dem Unglück starb, und die offen­sicht­lich schwer trau­ma­ti­siert ist, von dem, was ihr geschah. Betreut wird sie von Chehnaz, der kaum älteren Psycho­login des Kran­ken­hauses. In langen, mühse­ligen Gesprächen versucht diese Elmas innere Blockaden zu lösen und sie wieder sich selbst finden zu lassen.

In einer kunst­vollen Paral­lel­er­zäh­lung montiert Yesim Ustaoglu die getrennten Schick­sale zweier Frauen in der heutigen Türkei, ihre Wege aus denkbar unter­schied­li­chen sozialen Milieus: Die eine wuchs auf dem Land auf, in rück­s­tän­digen Verhält­nissen, für die das Wort »tradi­tio­nell« nur eine beschwich­ti­gende Floskel ist. Sie heißt Elmas, ist erst 18 Jahre alt und wurde zwangs­ver­hei­ratet mit einem wesent­lich älteren, überaus unan­ge­nehmen Mann. Das Ehepaar lebt in armen Verhält­nissen in einer anonymen Hoch­haus­sied­lung.
Die andere ist Chehnaz. Sie wurde modern und westlich-liberal erzogen, sie studierte und arbeitet heute als Psycho­login. Ihr Mann – gespielt vom bekannten deutsch-türki­schen Darsteller Mehmet Kurtulus – ist Architekt – ein gut situ­iertes Paar, das reprä­sen­tativ für den neuen, aufstre­benden Mittel­stand der heutigen Türkei steht.
Beider Leben werden im Lauf des Films zusam­men­ge­führt.

Geht es also haupt­säch­lich um Frau­en­schick­sale in der Türkei? Ja und Nein – es geht um Frauen, und was sie gemeinsam haben, aber zuerst geht es mal um Gesell­schaft, Milieus, Klassen: In der Türkei sprechen die aufklärten, großbür­ger­li­chen Türken, um solche ekla­tanten gesell­schaft­li­chen Unter­schiede zwischen diesen zwei voll­kommen getrennten Welten zu beschreiben, gern von der »weißen« und der »schwarzen« Türkei
Wo die Regis­seurin hier steht, ist nur scheinbar nie eine Frage. Yesim Ustaoglu ist die renom­mier­teste Filme­ma­cherin des türki­schen Gegen­warts­kinos. Immer wieder greift sie gesell­schaft­liche Tabu-Themen auf, wie den Kurden­kon­flikt (Reise zur Sonne), die Vertrei­bung des grie­chi­schen Bevöl­ke­rungs­teils nach 1918 (Waiting for the Clouds) das Verhältnis der Gene­ra­tionen und Demenz (Pandora’s Box) oder Minder­jäh­ri­gen­schwan­ger­schaft (Araf).

Natürlich gehört diese gebildete, urbane, kosmo­po­li­ti­sche Regis­seurin selbst zur aufge­klärten, dem Westen zuge­wandten Seite der Türkei. Im Grunde geht es Yesim Ustaoglu aber darum, zu zeigen, dass ihr Geschlecht zu uner­war­teten Gemein­sam­keiten zwischen den beiden Frauen und ihren Milieus führt, und sie verbindet.

Das ist zumindest die plakative Behaup­tung des Films. Der Alltag der jungen Elmas ist eine fort­wäh­rende monotone Passion: Die Schwie­ger­mutter ist eiskalt und überdies schwer zucker­krank. Selbst­ver­s­tänd­lich wohnt sie im selben Haushalt, selbst­ver­s­tänd­lich lässt sie sich von ihrer Schwie­ger­tochter bedienen, komman­diert sie im miesen Komman­doton herum. Zwischen dem Ehepaar herrscht Nicht-Kommu­ni­ka­tion – Gehorsam und Unter­wür­fig­keit der Frau prägt den Alltag, sodass Elmas sogar eine de-facto-Verge­wal­ti­gung durch den Ehemann schweigsam über sich ergehen lässt.

Chehnaz' schein­barer Götter-Gatte Cem wiederum ist tatsäch­lich ein eitler Lang­weiler, der zuhause am liebsten Pornos guckt und sich von seiner Frau in jeder Hinsicht bedienen lässt.

Nachdem beide Schick­sale zunächst spie­gel­bild­lich neben­ein­ander erzählt werden, treffen die beiden Prot­ago­nis­tinnen dann nach etwa der Hälfte des Films durch den erwähnten Sturm erstmals persön­lich aufein­ander.

Die Drama­turgie der Paral­lel­mon­tage wird in überaus nüch­terner Tonlage erzählt: Wie schon in früheren Filmen der Regis­seurin sind hier Wetter (Wolken, Regen) und Natur (Meer, Brandung, Fels) etwas hilflos einge­setzte, arg eindi­men­sio­nale Metaphern. Bemer­kens­wert sicher sind aber Ustaoglus Insze­nie­rungen: Einstel­lungen und Tonar­ran­ge­ments sind penibel durch­kal­ku­liert, und stehen ganz in der Tradition eines inzwi­schen gele­gent­lich etwas anti­quiert wirkenden, bis aufs Detail autoritär kontrol­lierten Kunst-Kinos. Dies ist ein Lehrstück über exis­ten­ti­elle Freiheit, ein Plädoyer für weibliche Selbst­be­stim­mung. Gele­gent­lich trocken, sehr prin­zi­piell, sollte man sich doch nicht von jenen Kritikern abschre­cken lassen, die über »akade­mi­sche Refle­xi­ons­me­thode« und fehlende »innere Psycho­logie« und »emotio­nale Nähe« jammern, die verloren, die »nötig wäre« (warum eigent­lich? für wen?) uns Zuschauer angeblich (!!) »über weite Strecken auf Distanz« hält.
Viel­leicht sind derlei Sätze ja eher eine Bank­rotter­klä­rung für eine Kritik, der Stahlbad täglicher Fern­seh­spiel­be­duschung schon jeden Sinn für Insze­nie­rungen jenseits der Einfüh­lungs- und Iden­ti­fi­ka­tions-Ästhetik verloren hat.

Türkisch lautet der Titel des Films Tereddüt, also »Bedenken, Unent­schlos­sen­heit«. Clair Obscur, der inter­na­tio­nale Titel des Films, das meint die bekannte Hell­dunkel-Technik der klas­si­schen Malerei. Sie diente zur Licht­dra­ma­turgie eines Gemäldes, aber eben auch zur Blick­len­kung des Betrach­ters.

Genau dies passiert auch hier. Dies ist ein politisch wichtiger, auch für nicht­tür­ki­sche Zuschauer hoch­in­ter­es­santer Film. Für die derzei­tigen Verhält­nisse des erzre­ak­ti­onären, neo-puri­ta­ni­schen, nur noch formal demo­kra­ti­schen Erdogan-Regimes ist Clair Obscur schon fast zu gewagt: Dafür sorgen nicht nur die recht frei­zügigen Sex-Szenen, sondern auch die femi­nis­ti­sche poli­ti­sche Grund­hal­tung der Regis­seurin.

Sie macht deutlich, dass die Unter­schiede zwischen den beiden Seiten der Türkei viel­leicht kleiner sind, als man es gern wahrhaben will: Die »weiße«, aufge­klärte Türkei ist auch selbst­ge­fällig, bequem und eitel, und in den scheinbar stimm­losen, bornierten Unter­schichten der »schwarzen« Türkei gibt es unge­ahntes Befrei­ungs­po­ten­tial.