Niederlande/B/D 2017 · 90 min. · FSK: ab 16 Regie: Nanouk Leopold Drehbuch: Stienette Bosklopper Kamera: Frank Van den Eeden Darsteller: Bas Keizer, Naomi Velissariou, Wim Opbrouck, Dana Marineci, Cosmina Stratan u.a. |
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Krieger mit Dutt |
In der ersten Szene trimmt sich Cobain sein Seitenhaar kurz, als bereite er sich ähnlich der Hauptfigur Travis Bickle in Taxi Driver auf eine unabwendbare Mission vor. Dass er den Undercut-Schnitt mit einem Dutt kombiniert, trägt seine Ambivalenz nach außen. Er wirkt wie ein Krieger, der seinen weichen Kern nicht verbergen kann. Sein berühmter, motivgebender Name wie auch eine von Leonard Cohen inspirierte, immer wiederkehrende Melodie (nach »The Stranger Song«) betonen den dunklen, melancholischen, unbehausten Aspekt seiner Geschichte. Der 15-Jährige lebt im Heim und soll in einer Pflegefamilie untergebracht werden. Aber er kann deren freundliches Bemühen und die wohlsituierte Atmosphäre nicht einen Tag aushalten. Er muss seine drogenabhängige, schwangere Mutter Mia für die Geburt seines Geschwisters in einem sicheren Zuhause untergebracht wissen. So verlässt der Junge mitten in der Nacht sein neues Heim und durchstreift die Stadt auf der Suche nach der Mutter.
Nanouk Leopold hat ein Adoleszenzdrama geschaffen, das im Zuschauer noch lange nachhallt – wobei die deutsche Synchronisierung mit ihren unpassenden, vom Geschehen distanzierten Stimmen dessen Wirkung im Vergleich zur Originalfassung leider erheblich beeinträchtigt. Es zeichnet einen frühreifen Jungen, dessen kindliche Bedürfnisse von der eigenen Mutter nie befriedigt worden sind. Darum fällt es ihm schwer, sich von ihr zu emanzipieren. Die emotionale Leerstelle kann von keinem sonst gefüllt werden. Und wenn Cobain Mia trifft, frustriert sie ihn immer aufs Neue, taucht ihn in ein Wechselbad der Gefühle. Manchmal ist sie stolz auf ihn, küsst ihren »kleinen Fußballer« vor versammelter Mannschaft, dann jagt sie ihn wieder zum Teufel. Andererseits drängt sie ihn durch ihre Sucht, wenn sie sich zum Gespött macht oder sein Geld benötigt, in die Rolle ihres Beschützers und Retters. Dass ihn das nicht unbeschadet heranreifen lässt, malt der Film anschaulich aus. Die belastenden Erlebnisse prägen Cobains Wahrnehmung, er nimmt sie nur noch in Auslassungen wahr, was sich narrativ in Ellipsen niederschlägt. Dass er dabei seine Umwelt als unwirklich erfährt, während er selbst schwer durchschaubar bleibt, bringen die Montage von Katharina Wartena und die hervorragende Kameraarbeit von Frank van den Eeden bestens zum Ausdruck. Van den Eeden arbeitet mit einem engen Schärfenbereich. Zumeist stellt er nur auf die Hauptfiguren scharf, oft in Großaufnahmen, während der Hintergrund verschwimmt, obgleich er eine reizvolle Atmosphäre verströmt: Cobain geht an einer grünen, lichtdurchfluteten Wiese vorbei, er steht vor den stimmungsvollen Lichtpunkten der Promenade des gegenüberliegenden Ufers oder sieht sich um vor den verheißungsvollen Lichtreflexen einer Stadt. Aber der Junge ist losgelöst von dieser Welt. Er bewegt sich von einer Umgebung in eine andere, mit sich selbst und seinen Gedanken beschäftigt. Wenn die reale Welt doch einmal zu ihm durchdringt, fällt sein Augenmerk zumeist auf das, was er selbst nicht besitzt: Freiheit, Weite und eine Familie.
Leopolds Adoleszenzdrama beschreibt Cobains psychisches Dilemma plastisch. Er ist im Wiederholungszwang gefangen, seiner destruktiven Herkunft verhaftet. Statt in seiner Pflegefamilie die förderliche Umgebung zu erkennen, sucht er in dem Zuhälter Wickmayer einen Ersatzvater. Mit ihm und dessen Prostituierten lebt er nun zusammen und geht ihnen zur Hand. Um die festgefahrene Beziehung zur Mutter zu trennen, ersinnt der Film schließlich einen irritierenden Schluss. Die Mutter stirbt im Beisein von Cobain kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes. Weinend schneidet es Cobain in einer sinnbildlichen, brutalen Szene aus ihrem Leib heraus. Dies symbolisiert auch seinen Hass, den er zumeist unterdrückt hatte, der aber über manchen Szenen drohend als roter Lichtschein schwebte. So setzt der Film den Zuhälter ins Recht, der Mia für einen rettungslosen Junkie hielt. Er sah in ihr keine Mutter, sondern »höchstens ein Loch, wo du hervorgekrochen bist«, und riet: »man sollte sie von ihrem Leiden erlösen«. Doch Mias Tod befreit Cobain nicht von seinem Welterleben. Die Schlussszene zeigt ihn erst fußballspielend mit Gleichaltrigen, dann sinnierend im Gras. Ob er zu sich selbst finden wird, bleibt offen.