Mexiko/USA 2024 · 140 min. · FSK: ab 16 Regie: Alonso Ruizpalacios Drehbuch: Alonso Ruizpalacios Kamera: Juan Pablo Ramírez Darsteller: Rooney Mara, Raúl Briones, Anna Diaz, Motell Foster, Oded Fehr u.a. |
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Die Köche an der Assembly Line | ||
(Foto: SquareOne Entertainment) |
Messerscharf rhythmisiert das Hacken von Zwiebeln, Gemüse, Kräutern, das Zerteilen von Steaks, das Krachen der Hummer-Exoskelette den Flow von La Cocina. Wir sind im Bauch des Touristen-Restaurants »The Grill«, direkt unter dem Times Square von New York. Im Akkord werden hier auf einer Assembly Line Gerichte zubereitet, Burger, Chicken Masala und Lobster, das Fast Food gibt sich anspruchsvoll. In kleinen Koch-Kojen aufgereiht stehen die Köchinnen und Köche und geben, was das Zeug hält. Tempo ist für die Gelddruckmaschine alles, was zählt. Die Touries wollen schnell serviert und abserviert werden, damit sie Platz für die nächsten machen.
Der mexikanische Regisseur Alonso Ruizpalacios hat diesen kulinarischen, hochkapitalistischen Nichtort als kakophonisches Monument inszeniert. La Cocina, eigentlich nach dem Theaterstück »The Kitchen« (1956) des Briten Arnold Wesker, ist eine filmische Oper Brecht'scher Prägung, die ganz ohne Lieder auskommt (und damit die Musical-Serie des vergangenen Jahres nicht weiterführt), einzig die Küchenmesser, die herunterfallenden Tabletts, das Durcheinanderschreien des Personals und insgesamt das deutlich vernehmbare Sound-Design aller möglichen Küchen- und Arbeitsgeräusche sorgen für einen durch und durch proletarischen Sound. Die junge Mexikanerin Estela (Anna Díaz) führt uns ein in diese Parallelwelt der Essenszubereitung. Sie spricht kaum ein Wort Englisch, ist eine der vielen Einwanderinnen, die in New York ihr Glück versuchen. Am liebsten: vom Tellerwäscher zum Millionär. So zumindest erzählt es der American Dream.
Mit Estela, die damit so etwas wie eine Undercover-Filmfigur für die Entdeckung einer verborgenen Welt wird, gelangen wir in die Koch-Koje von Pedro (Raúl Briones), den sie seit ihrer Kindheit kennt. Er kommt aus demselben Dorf, sie verleiht ihm kurz Heimatgefühle. Ansonsten aber hat Pedro die größte Klappe in der Küche und wird von nun an auch den Film dominieren. Er unterhält eine Liebschaft zu Julia, einer blonden Amerikanerin, die aus dem Einwanderer-Küchenpersonal heraussticht. Rooney Mara ist die Gringa, sie lässt sich in der Kühlkammer von Pedro ficken, nach einem romantischen Balztanz am Aquarium des Restaurants, in das schwebend die Hummer hineingleiten. Die Beziehung und der Sex, das geht schon eine Weile zwischen ihnen, und, bad news, Julia ist schwanger. Die Misere, die sich ankündigt, ist kitchen sink in Reinform.
Das ist die Ausgangslage für den einen Tag, den Ruizpalacios bravourös als unaufhaltsame Tour de Force erzählt. Ein Teil der Einnahmen vom Vortag ist verschwunden, eine beträchtliche Summe, der Chef verdächtigt das gesamte Personal, vor allem aber Pedro. Braucht der nicht Geld, um für die Freundin die Abtreibung zu bezahlen? Weil Pedro andererseits eine super Arbeitskraft ist, steht er an diesem Tag unter Beobachtung. Wenn er sich bewährt, wird er seine Einwanderungspapiere erhalten und seinen Status als Immigrant legal machen können. Er hat zwei »Strikes« frei, beim dritten fliegt er. Hopp oder top, hired or fired. Das ist existentiell. Das ist der American Nightmare.
Mit ausschweifender Energie nimmt der Tag seinen Lauf, gefilmt wird in epischem Schwarzweiß. Kameramann Juan Pablo Ramírez folgt mit der Steadycam dem Küchenpersonal die engen, labyrinthischen Gänge entlang, in langen Shots und mit nur wenigen Schnitten. Zwei zentrale Momente der Großküche – die Kunst der Choreographie und das richtige Timing – übersetzen sich in die Poetik des Films, wenn sich die Serviererinnen den Weg zu den Essensausgaben bahnen, der Schwingtür am Eingang ausweichen, sich den Koch, der das Essen nicht fertig hat, über den Tresen hinweg packen, wenn sie zurückeilen ins Restaurant, wo die Gäste mit der Bestellung hadern, sie mit einem knappen »Ich komme wieder, lassen Sie sich ruhig Zeit« davonhasten, schneller Schritt, fliegend, zurück in die Katakomben.
In dieser atemberaubenden Szene verzichtet Ruizpalacios komplett auf den Schnitt, filmt in einer langen Plansequenz à la Sebastian Schippers Victoria, in einer virtuos getimeten Komposition, während sich Titanic-artig Cherry Coke, der Spender ist kaputt, auf den Boden der Großküche ergießt, ohne dass der Betrieb zum Stoppen käme. »Habe ich Euch nicht gesagt: Heute keine Cherry Coke?!«, brüllt der Patron ins Chaos hinein. Dazwischen Pedro, der versucht, sein Privatleben zu ordnen.
La Cocina kommt aber auch zur Ruhe. Eben dieser Wechsel des irrsinnigen Tempos und die große Gelassenheit einzelner Szenen machen La Cocina operesk, mit verschiedenen Akten und Stimmungen, in sich gekehrten Rezitativen und anschwellendem Orchester. Dann Stille. Mittagspause. In der Gasse hinter dem Restaurant nehmen sich die Köchinnen und Köche eine Auszeit. Rauchen. Und erzählen sich ihre Träume. Es sind Kapseln der Zeitentschleunigung und emotionalen Verdichtung; dazu die Blicke der Kamera in den Himmel, wo die Krähen fliegen. Da wird der kraftvolle Film dann sehr poetisch, nachdenklich, und es zeigt sich auch der Horizont, wo La Cocina gerne hin möchte: Ins große Episch-Schicksalhafte des migrantischen Prekariats.
Dies übersetzt sich in einen ästhetischen Auftrumpfungsgestus, in eine ausschweifende Überwältigung in Schwarzweiß mit Kamera- und Schnitt-Manierismen. Dem sollte man sich getrost hingeben, um einzutauchen in den virtuos-atemlosen Tag, an dem Pedro, der Koch, nach einer langen Reihe von Ereignissen zuletzt die Fassung verliert – und mit ihr seine Freundin, seinen Job, seinen Aufenthaltsstatus. Sein Leben…