Frankreich 2008 · 147 min. Regie: Arnaud Desplechin Drehbuch: Emmanuel Bourdieu, Arnaud Desplechin Kamera: Eric Gautier Darsteller: Catherine Deneuve, Jean-Paul Roussillon, Anne Consigny, Mathieu Amalric, Me u.a. |
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Catherine Deneuve und Mathieu Amalric als lakonisches Mutter-Sohn-Gespann |
Nietzsche schreibt, dass der Mensch sich selbst nicht kennt. Er sei ständig auf der Suche nach Glück, nach Erkenntnis, nach Wahrheit, doch der Schlüssel zu all dem sei die Suche nach sich selbst. Denn nur wer sich selbst kenne, finde Erfüllung.
Die Szene, in der der philosophische Trumpf fällt, ist eine der Schlüsselszenen aus Arnaud Desplechins neuestem Film Un conte de Noël, der in Cannes allerlei Beachtung gefunden hat und nun auf dem Filmfest dem Münchner Publikum vorgestellt wurde. Elisabeth fragt ihren Vater Abel, warum sie ihr ganzes Leben lang von einer diffusen Traurigkeit begeleitet wird. Er antwortet mit den oben zitierten Worten Nietzsches, und meint dies durchaus tröstend. Und wie der Film zeigt, richten sie sich im Grunde nicht nur an Elisabeth allein, sondern es sind alle Mitglieder der Familie Vuillard, die sich stetig suchen und die sich selbst nicht zu kennen scheinen. Und noch weniger kennen sie einander.
Dies wird offenbar, als an Weihnachten die Familie nach langen Jahren wieder einmal im Elternhaus vollständig zusammenkommt. Gefehlt hatte sonst immer Henri, gespielt von Mathieu Amalric, der von seiner Schwester Elizabeth aus der Familie verbannt wurde. Er ist zum Trinker geworden, nachdem er seine Herkunfstfamilie verlassen musste und dann noch seine Frau gestorben ist, und führt nunmehr einen nicht mehr standesgemäßen Lebenswandel. Die Vuillards, eine wohlhabende Mittelstandsfamilie, literarisch und musisch gebildet, legen großen Wert auf ihre Genealogie. Die Familienfotos sind allgegenwärtig im Hause Vuillard, sie sind deutlich sichtbar auf dem Nachttisch oder auf dem Kaminsims platziert und werden gemeinsam mit den Enkeln betrachtet. Das Herzstück dieser Ahnengalerie ist das großformatige Gemälde der Großmutter Vuillard, das im Salon prangt.
Vor diesem großbürgerlichen Dekor lässt Desplechin die Familienmitglieder sich in einem undurchschaubaren Netz von Gefühlen verfangen, das von Liebe, Leidenschaft, Loyalität, Eifersucht und Egoismus gespannt wurde. Ausgelöst wurde dies durch die Mutter Junon (großartig: Catherine Deneuve), die kurz vor Weihnachten erfahren hat, dass sie an Leukämie leidet. Wie die Tests ergeben, sind die einzigen möglichen Knochenmarkspender Henri und Elizabeths Sohn Paul. Grund genug, auch alle anderen Familienmitglieder auf Mark und Bein zu befragen.
Henri zum Beispiel hat seine Mutter nie geliebt, und sie ihn auch nicht, wie sie sich ohne Vorwurf oder Enttäuschung in einem fast lakonischen Zwiegespräch offen bei einer Zigarette sagen. Elizabeths Sohn Paul hatte kurz zuvor einen Nervenzusammenbruch erlitten, daher halten ihn alle für schwächlich. Henris Bruder Ivan hatte die gleichen Symptomen in Pauls Alter und glaubt nun, dass er durch ihn seine eigenen Probleme von damals aufarbeiten kann. Seine Frau Sylvia (gespielt von Deneuves Tochter Chiara Mastroianni) wiederum erfährt vom Cousin der Vuillard-Kinder, Simon, der mit der Familie aufgewachsen ist, dass ihr Schicksal vor vielen Jahren hinter ihrem Rücken von den jungen Männern der Familie entschieden wurde und ihr Leben ganz anders hätte verlaufen können.
Einmal entpuppt sich ein handfester Streit zwischen Henri und seinem Schwager, weil Henri zum wiederholten Male seine Schwester beleidigt hat. Henri unterliegt dem seine Frau verteidigenden Schwager, und die Musik, die zeitgleich mit der Niederlage des körperlich unterlegenen Henri einsetzt, ist eine triumphale bis heitere-ironische schottische Dudelsackmusik, die die Situation entschärft und fast komisch wirken lässt. Der Film ist durchsetzt von diesen Irritationsmomenten, in denen Desplechin das Misstrauen sät, ob denn der Film nicht am Ende zu sich selbst auf Distanz geht und hier eine Familie im besten Sinne des Wortes »vorgeführt« wird.
Zumindest stellen alle Familienmitglieder fest, dass das Bild, das sie von sich selbst bis dahin hatten, im Grunde gar nicht ihr Wesen trifft, da sie – ganz im Sinne von Nietzsche – nie nach sich selbst gesucht haben. Das Schicksalhafte, das sich hinter dieser Erkenntnis verbirgt, wird betont durch das Märchenhafte, das sich durch den ganzen Film hindurchzieht, und von dem alle Figuren betroffen sind.
Schon allein die Titulierung des Films als eine 'Geschichte' tut
kund, wie sehr sich der Film selbst als gemachte Erzählung begreift, was durch zahlreiche literarische Zitate und Anspielungen an Märchen immer wieder aufgegriffen wird. Dann wird die Handlung regelmäßig unterbrochen von kapitelgebenden Zwischentiteln, und auch die Namen wie Abel oder Junon geben durch die Anspielungen auf Figuren aus der Bibel und der griechischen Mythologie der Geschichte exemplarischen Charakter. Diese Bezüge werden verstärkt, wenn Henri an seine
Schwester schreibt: »Wir befinden uns in der Mitte eines Mythos, ich weiß nur nicht, welcher Mythos das ist.«
In dieser Weihnachtsgeschichte kennen sich die Figuren selbst nicht. Sie lösen sich auf unter den Konflikten, die vergeblich auf eine Lösung warten. Diesen unsteten, sich selbst suchenden Charakteren, soviel bleibt festzustellen, haftet jedoch etwas sehr echtes an; sie erscheinen wie direkt aus dem Leben gegriffen.