Deutschland/L/F 2015 · 110 min. · FSK: ab 16 Regie: Florian Gallenberger Drehbuch: Torsten Wenzel, Florian Gallenberger Kamera: Kolja Brandt Darsteller: Emma Watson, Daniel Brühl, Michael Nyqvist, Richenda Carey, Vicky Krieps u.a. |
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Zu oft nur altbekannte Genre-Standards |
Verwerflich ist es sicher nicht, wahre Begebenheiten als Thriller-Unterhaltung aufzubereiten. Wenn Hintergründe verwässert werden und Schwarz-Weiß-Muster vorherrschen, sind kritische Anmerkungen aber durchaus angebracht. Florian Gallenberger, der für den Kurzfilm Quiero ser – Gestohlene Träume einen Oscar erhielt, verfolgt mit seiner internationalen Koproduktion Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück lobenswerte Absichten, da er die Verbrechen einer deutschen Terrorsekte in Chile einer breiteren Öffentlichkeit nahebringen will. Gleichzeitig vermittelt der – wie im Presseheft zu lesen ist – umfassend recherchierte Film aber nur ein lückenhaftes Bild der historisch verbürgten Ereignisse und vertraut zu oft auf altbekannte Genre-Standards.
Im Mittelpunkt steht das titelgebende Musterdorf – Colonia Dignidad heißt übersetzt „Kolonie der Würde“ –, das der deutsche Laienprediger Paul Schäfer 1961 einige hundert Kilometer südlich von Santiago de Chile gründete, nachdem er wegen Missbrauchsvorwürfen aus seiner Heimat geflohen war. Lässt der Name der Enklave auf einen Ort des friedlichen Miteinanders schließen, sah die Realität ganz anders aus. Schäfer herrschte über seine Gefolgsleute mit grausamer Hand. Frauen und Männer wurden getrennt. Eltern durften ihre Kinder nicht mehr sehen. Brutale Zwangsarbeit gehörte zum Alltag. Der Sektenchef verging sich ständig an Minderjährigen. Und nach dem Putsch durch General Augusto Pinochet unterstützte Schäfer dessen Terror-Schergen in umfangreichem Maße. Etwa indem sie auf dem Areal der Colonia Regimegegner heimlich foltern konnten.
Gallenberger und Koautor Torsten Wenzel betten den realen Schrecken in die Geschichte eines fiktiven Pärchens ein, das unversehens mit dem Unrechtssystem in Berührung kommt: Im Herbst 1973 trifft die Lufthansa-Stewardess Lena (Emma Watson) in der chilenischen Hauptstadt ihren Freund Daniel (Daniel Brühl) wieder, einen engagierten Fotografen, der sich auf der Straße für den gewählten Präsidenten Salvador Allende starkmacht. Helle Bilder, kleine Neckereien und zeitgenössische Popsongs beschwören eine ausgelassene Atmosphäre. Doch das Grauen lässt nicht lange auf sich warten. Nach dem Militärputsch geraten die beiden Deutschen ins Visier von Pinochets Geheimdienst, und der Film schlägt mit einem Mal einen düsteren Tonfall an. Daniel wird in die Colonia Dignidad verschleppt, während Lena verzweifelt nach ihm sucht und sich dank eines Hinweises auf den Weg zum Sektenlager macht. Dort angekommen, schleicht sie sich unter dem Vorwand, ein religiöses Leben führen zu wollen, in die Gemeinschaft ein.
Eine außenstehende Person begibt sich in die Höhle des Löwen, um einen geliebten Menschen zu retten – ein altbekannter Thriller-Plot, der Spannung garantiert. Auch in diesem Fall. Wiederholt gelingen Florian Gallenberger packende Sequenzen, die mit einem möglichen Auffliegen der Hauptfiguren spielen. Anders als es im Genre üblich ist, erweist sich hier mit Lena eine Frau als treibende Kraft. Die Stewardess lässt nicht locker, nimmt ein großes Wagnis in Kauf und will Daniel partout nicht aufgeben. Der junge Mann hingegen bleibt zunächst eher passiv, da er nach brutalen Foltersitzungen eine geistige Behinderung vortäuscht – was platt und unfreiwillig komisch wirkt.
Mit Lena tauchen wir Schritt für Schritt in den unmenschlichen Siedlungsalltag ein, wobei der Film nicht an beklemmenden Momenten spart. Besonders widerwärtig sind die so genannten Herrenabende, bei denen Sektenguru Schäfer (Michael Nyqvist) einzelne Bewohner vor einer aufgebrachten Männermeute bloßstellt oder auch verprügeln lässt. Ein Tribunal, das lediglich einen Zweck verfolgt: die Brechung der am Pranger stehenden Opfer. Schäfers sexuelle Übergriffe werden mehr als einmal angedeutet. Und nicht zuletzt in diesen Szenen wird deutlich, dass die „Kolonie der Würde“ in Wahrheit einer Hölle auf Erden gleicht.
Das Lageroberhaupt erscheint in Nyqvists Darstellung von Anfang an wie ein sadistischer Teufel und strahlt durchweg eine furchteinflößende Aura aus. Gleichwohl bleibt Schäfer zumeist ein klischierter Bösewicht, der vor allem filmischen Gesetzen gehorcht. Wie seine Schreckensherrschaft im Detail funktioniert, mit welchen Versprechungen er die Siedler nach Chile gelockt hat, und wie er sie dauerhaft gefügig macht, zeigt Colonia Dignidad leider nicht. Da der Fokus auf Lenas Rettungsmission liegt, wirken die Schicksale der beiden herausgehobenen Lagerinsassinnen Ursel (Vicky Krieps) und Dorothea (Jeanne Werner) reichlich skizzenhaft. Und auch die Kollaboration mit Pinochets Regime ist oft nur stichwortartig in die Handlung integriert. Zu selten dringt der Politthriller in die Tiefe vor, weshalb sich spätestens am Ende eine Frage stellt: Hätte es mehr gebracht, wenn die Protagonisten in der Siedlung großgeworden wären? Womöglich schon, weil man dann die persönlichen Qualen noch konkreter hätte schildern können.
Dass er Spannung routiniert zu inszenieren versteht, beweist der Regisseur im Show-down, der dennoch einen bitteren Beigeschmack erzeugt. Immerhin überlagert die etwas übertriebene Actiondramaturgie den vorher gezeigten Schrecken. Und noch dazu handeln Gallenberger und Wenzel an dieser Stelle einen überaus brisanten Aspekt – nämlich die Verstrickungen der deutschen Politik, genauer gesagt der Botschaft in Santiago – im Vorbeigehen ab. Ein weiterer Beleg dafür, dass der Thriller seinem komplex-sensiblen Thema bloß in Ansätzen gerecht wird.
Auch wenn Colonia Dignidad allenfalls sporadisch überzeugen kann, ist dem Film ein größerer Publikumserfolg zu wünschen, da er ein dunkles Kapitel der chilenisch-deutschen Geschichte beleuchtet und interessierte Zuschauer zu einer Vertiefung der Materie ermuntern könnte. Lohnenswert ist das in jedem Fall, denn nach wie vor sind die Verbrechen nicht vollends aufgearbeitet. Noch immer können damalige Täter, selbst in Deutschland, ein unbehelligtes Leben führen. Und mittlerweile präsentiert sich das ehemalige Folterlager unter dem Namen „Villa Baviera“, sprich „Bayerisches Dorf“, als volkstümliche Touristenattraktion – makaber, wenn man bedenkt, wie viele Menschen an eben diesem Ort unglaubliches Leid ertragen mussten.