GB/USA 2019 · 119 min. · FSK: ab 6 Regie: Armando Iannucci Drehbuch: Simon Blackwell, Armando Iannucci Kamera: Zac Nicholson Darsteller: Dev Patel, Hugh Laurie, Tilda Swinton, Peter Capaldi, Bronagh Gallagher u.a. |
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Empire und Diversität mal ganz anders interpretiert | ||
(Foto: eOne) |
So wie jede Generation ihre eigene Geschichte neu interpretiert, und dabei auch gerne eine Menge über den Haufen wirft, was bislang als Paradigma galt; so wie jedes Jahrzehnt neue Ernährungs- und pädagogische Leitfäden entwickelt, so hat auch jede Zeit ihre Klassiker. Neu entdeckte oder neu interpretierte. Das bedeutet z. B. für uns Gegenwärtige, dass Hamlet gerade am Schauspielhaus in Bochum von Sandra Hüller verkörpert wird. Oder dass der außergewöhnliche schottische Radioproduzent, Schriftsteller, Satiriker und Filmregisseur Armando Iannucci sich eines der großen Klassiker der britischen Literatur annimmt, eines, der schon so oft verfilmt wurde, dass man den Wald vor Bäumen kaum mehr sieht, – The Personal History, Adventures, Experience and Observation of David Copperfield the Younger of Blunderstone Rookery (Which He Never Meant to Publish on Any Account) – kurzum: David Copperfield, eins und für einige sogar DAS Meisterwerk von Charles Dickens.
Iannucci ist kein Unbekannter. 2017 erhielt er für seine so rabiate wie zärtliche, tiefschwarze Komödie The Death of Stalin den Europäischen Filmpreis für die beste Komödie; ein Film, der an Überraschungen so reich ist wie an präzisen Beobachtungen über die Genese totalitärer Systeme.
Auch in David Copperfield – Einmal Reichtum und zurück überrascht Iannucci. So frisch, so witzig, so tiefgründig, und so respektlos wie verliebt wurde schon lange kein Klassiker mehr adaptiert. Allein schon die Idee, die Hauptrolle des David Copperfield mit Slumdog Millionaire Dev Patel zu besetzen ist grandios, ist an sich schon ein Subtext, über den man seitenlang fabulieren könnte. Und auch sonst: Wie Iannucci das gerade so hoch gehandelte Thema oder besser noch die Forderung »Diversität« (wir berichteten im Juli dieses Jahres) in einer ethnischen Vielfalt auf den restlichen Cast zu übertragen, ist einerseits ein zutiefst schwarz-humoriger Kommentar zur Idee des »British Empire«, ist aber auch gleichzeitig ein geschickter Schachzug, den Klassiker in die Brexit-Gegenwart zu wuchten und damit bei allem subtilen Witz auch mit vollem Ernst zu fragen – was hat sich geändert? Und dann aber auch zu zeigen: glaubt bloß nicht, dass die Hautfarbe bestimmt, wer Täter und wer Opfer ist. Das mag in den USA vielleicht eindeutiger sein, im Rest der Welt gilt das aber keinesfalls, hat jedes Land seine »Hautfarbe«, die es diskriminiert.
Aber Iannucci, der auch für das Drehbuch verantwortlich ist, wäre nicht Ianucci, würde er dieses heikle, schwere Thema nicht mit einem süffigen Plot und brillanten Dialogen, Verweisen und Zitaten auf das literarische Original unterfüttern. Und mit einem Cast – darunter eine so umwerfende wie groteske Tilda Swinton oder ein großartiger Ben Whishaw als Uriah Heep – garnieren, dass die pure Lust am Schauspiel nicht nur zelebriert, sondern sie gleichzeitig schmeichlerisch der literarischen Vorlage unterwirft, die auch nach so vielen Jahren jedes neugierige Herz in Flammen setzen sollte.
Denn was hat Dickens nicht alles zu bieten: Brennende Liebe, tragische Lebenslinien, und einen gesellschaftskritischen Ansatz, der einem Ken Loach in nichts nachsteht, ja sogar den bitterbösen Humor eines Films wie Ich, Daniel Blake besitzt und sogar etwas zum Brexit zu sagen hat. Alles natürlich kein Wunder, ist Dickens ja gewissermaßen der Urvater der großen britischen Sozialdramen.
Wer Dickens dennoch nicht lesen mag, auch nicht Arno Schmidts fantastisches Essay über Dickens spätes Meisterwerk Bleak House, der sehe sich unbedingt diese absolut zeitgemäße, wunderbare Interpretation eines der ganz großen Dickens-Romane an.