The Dead Don't Hurt

USA/MEX/GB 2023 · 129 min. · FSK: ab 12
Regie: Viggo Mortensen
Drehbuch:
Kamera: Marcel Zyskind
Darsteller: Vicky Krieps, Viggo Mortensen, Solly McLeod, Garret Dillahunt, W. Earl Brown u.a.
The Dead don't hurt
Liebes-, Landes- und Familienfilm...
(Foto: Alamode)

Die verschränkte Zeit

Viggo Mortensens erfrischender Beitrag zum Genre Western zieht überzeugend alle Western-Register der letzten Jahrzehnte und schafft zudem etwas ganz Eigenes

Viggo Mortensen ist denen, die sich im Film­um­feld bewegen, sicher­lich am ehesten durch seine schau­spie­le­ri­schen Leis­tungen präsent – sei es seine Rolle als Aragon im Herr der Ringe, als Ben in Captain Fantastic oder Tony Lip in Green Book. Mit Falling (2020) konnte Mortensen, der sowohl als Lyriker als auch als Sach­buch­autor eine beein­dru­ckende Biblio­grafie aufweisen kann und auch als Maler, Fotograf und Musiker von sich reden machte, seine zahl­rei­chen Talente erstmals vereinen und neben seiner schau­spie­le­ri­schen Stärke auch seine Drehbuch-, Produ­zenten- und Kompo­nisten-Seite ausleben.

Auch in seinem neuesten Film ist Mortensen auf allen Ebenen präsent und wie schon in Falling funk­tio­niert das auch in The Dead Don’t Hurt ganz hervor­ra­gend, und viel­leicht sogar noch besser, denn war Falling eher ein geschlos­senes kammer­spiel­ar­tiges Demenz­drama, ist Morten­sens Western ein Film, in dem Bild, Musik und Geschichte eine symbio­ti­sche Beziehung eingehen und sich gegen­seitig ergänzen.

Dabei sieht sich The Dead Don’t Hurt gerade am Anfang wie ein Western der alten Schule, werden durch den Bösen, der die Stadt terro­ri­siert und eine Art finales Duell provo­ziert, natürlich sofort Erin­ne­rungen an High Noon wach. Doch allein schon durch die über­ra­schende Verschrän­kung der Zeit­ebenen und die asyn­chrone Erzähl­weise lösen sich diese Asso­zia­tionen sehr schnell wieder auf.

Das liegt auch daran, dass Mortensen sich dem klas­si­schen, männlich domi­nierten Western-Narrativ verwei­gert und um eine unkon­ven­tio­nelle Liebes­ge­schichte zwischen dem dänischen Einwan­derer und Zimmer­mann Holger Olsen (Viggo Mortensen) und der Franko-Kana­dierin Vivienne Le Coudy (Vicky Krieps) berei­chert. Beide besitzen noch spürbare Elemente ihrer alten Ursprungs­hei­maten, die Mortensen z.T. mit Flash­backs unterlegt und damit den erzäh­le­ri­schen Raum spürbar erweitert, wodurch nicht nur Macht­kämpfe in Europa – der deutsch-dänische Krieg – thema­ti­siert werden, sondern auch subtil ein Bogen in unsere Gegenwart geschlagen wird, in der so wie damals Krieg immer ein Grund für Migration war und das Zielland nur ober­fläch­lich eine kulturell homogene Einheit darstellte.

Diese Zerris­sen­heit Amerikas thema­ti­siert Mortensen dann nicht nur über den ameri­ka­ni­schen Bürger­krieg, der gewis­ser­maßen der Subtext dieses Films ist, sondern auch über die bis heute viru­lenten Ideen und Praktiken eines zügel­losen Kapi­ta­lismus, der sich bis in die priva­testen Nischen fami­liären Lebens bohrt.

Gerade in diesen kriti­schen Momenten, aber auch mit seinem Score und einer starken Frau im Zentrum erinnert Morten­sens Film immer wieder an einen der großen Klassiker des Spät­wes­terns, an Michael Ciminos Heaven’s Gate, in dem Isabelle Huppert ein ähnlich unkon­ven­tio­nelles und auf Selbst­er­mäch­ti­gung hinzie­lendes Leben führt wie Vicky Krieps als Vivienne Le Coudy. Wie bei Cimino werden auch bei Mortensen die religiös-wirt­schaft­li­chen Kernwerte puri­ta­ni­scher Kultur hinter­fragt, die später ohne Frage zum wirt­schafts-poli­ti­schen Aufstieg der USA beigetragen haben, doch im Kern so korrum­piert sind, dass jede Politik immer eine Politik der Doppel­moral sein muss.

Neben diesen poli­ti­schen Impli­ka­tionen bleibt Mortensen jedoch bei seiner Bezie­hungs­ge­schichte und erzählt in exqui­siten Bildern vom Alltag auf dem Land und in der kleinen Provinz­stadt, zwischen denen Vivienne hin- und her pendelt, während ihr Freund Holger im Bürger­krieg für ähnliche Ideale kämpft wie damals in Dänemark und dort wie hier einen hohen Sold zahlen muss. Dieser Konzen­tra­tion auf weibliche Alltäg­lich­keit mit all ihren Kehr­seiten, aber auch Chancen, hat Kelly Reichardt in Meek’s Cutoff vor einigen Jahren ebenfalls faszi­nie­rend Raum gegeben. Auch dort waren die Frauen so wie in Morten­sens Film Vivienne immer wieder auf sich gestellt und mussten sich gegen ignorante Männ­lich­keit behaupten. Mortensen geht hier noch einen Schrit weiter. Seine Heldin muss sich nicht nur gegen Ignoranz und Gewalt behaupten, sondern auch für eine neue, unkon­ven­tio­nelle Liebes­be­zie­hung kämpfen und leiden.

Mortensen lässt diese unge­wöhn­liche Liebes- und Fami­li­en­ge­schichte dann jedoch nicht einfach so passieren, er reichert sie mit liebe­vollen Details an, etwa einem ernüch­ternden Bad bei Nacht und einem Ritt durch Schluchten und einem Wach­tel­schießen, das dem Film dann auch seinen doppel­deu­tigen Titel gibt. Denn nicht nur empfinden tote Vögel keinen Schmerz mehr, sondern können auch die Toten dieses Films niemandem mehr ein Leid antun.

Dement­spre­chend bietet uns Mortensen noch einen letzten Ausflug in eine weitere der unge­zählten Spiel­arten des Westerns an, eine minutiös und sehr delikat insze­nierte »Revenge«. Doch auch diesem Topos gibt Mortensen seine ganz eigene Hand­schrift. Und das nicht nur, weil ein Kind mit im Sattel sitzt.

Humanismus und Gewalt

Ein bisschen lustlos: Viggo Mortensen versucht als Regisseur, Autor und Schauspieler, den Western zu animieren und in Slow Cinema zu verwandeln

Der Film beginnt mit drei aufein­an­der­fol­genden Sequenzen. Die erste, kürzeste, zeigt den Gang eines mittel­al­ter­li­chen Ritters durch einen Wald. Die zweite ist das letzte Ausatmen einer Frau, Vivienne, in der resi­gnierten Gegenwart eines Mannes, Holger Olsen. Die dritte Szene zeigt ein Massaker, das von einem Psycho­pa­then in einer Stadt im ameri­ka­ni­schen Westen verübt wird und das scheinbar den Beginn der Handlung einleitet.

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Wir sind im Western, dem Lieb­lings­genre des US-Ameri­ka­ni­schen Kinos, das aller­dings bereits seit einigen Jahr­zehnten vor sich hinsiecht, irgendwie abgelebt und untot. So richtig scheint den Ameri­ka­nern nichts Neues mehr einzu­fallen, um dieses alte Kino-Genre in unsere Zeit zu führen, ein Genre, das von univer­saler Männ­lich­keit und der Eroberung der Natur durch die Zivi­li­sa­tion, der Durch­set­zung von Recht inmitten der Anarchie ebenso handelt, wie von dem, was eine Gesell­schaft ausmacht.

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Jetzt versucht es der Schau­spieler Viggo Mortensen, inzwi­schen auch schon 65 Jahre alt, in seiner zweiten Arbeit als Regisseur.
Die Karriere des Schau­spie­lers Viggo Mortensen begann nach seinem Debüt in einer Neben­rolle in Peter Weirs Die einzige Zeugin (1985) mit kleinen feinen Filmen wie Philip Ridleys The Reflec­ting Skin (1990) und The Passion of Darkly Noon (1995), die bei uns nicht ins Kino kamen, die man aber beim Filmfest München in den Neun­zi­gern sehen konnte, und in Brian De Palmas Carlito’s Way (1993) bevor er mit Peter Jacksons Herr der Ringe-Trilogie Welt­berühmt­heit erlangte. In den letzten 20 Jahren genießt Mortensen den Ruhm, einer der sensi­belsten Schau­spieler des neuen Jahr­tau­sends zu sein, dreht Autoren­filme mit David Cronen­berg oder in Argen­ti­nien. Und er dreht eben auch eigene Filme: Für The Dead Don’t Hurt hat Mortensen auch das Drehbuch geschrieben und er spielt die Haupt­rolle, den dänischs­täm­migen Tischler und Einwan­derer Holger Olsen. Am Hafen von San Francisco lernt er Mitte des 19. Jahr­hun­derts eine andere Einwan­derin kennen, die fran­zö­sisch-stämmige Vivienne Le Coudy (Vicky Krieps). Sie verlieben sich und ziehen in eine Block­hütte in einem einsamen kargen Tal irgendwo in Nevada. Ein paar Jahre nur wenig fröh­li­ches Landleben folgen, denn es gibt viele Entbeh­rungen, doch die Liebe macht vieles wett.

Dann aber bricht der Bürger­krieg zwischen Nord und Süd aus, und der patrio­ti­sche Pflicht­mensch Olsen meldet sich frei­willig.
Nun gibt es Bezie­hungs­knatsch – sehr vers­tänd­lich, denn Vivienne ist nun plötzlich auf sich allein gestellt und das an einem Ort, der von einem korrupten Bürger­meister (Danny Huston) und einem skru­pel­losen Rancher-Unter­nehmer regiert wird. Dieser Rancher hat auch noch einen gewalt­tätig-psycho­pa­thi­schen Sohn (Solly McLeod). Der hat es schon lange auf Vivienne abgesehen, er bedrängt die allein zurück­ge­las­sene Frau und verge­wal­tigt sie schließ­lich und schwän­gert sie obendrein. Der Film zeigt das ausgiebig und mit einem gewissen Vergnügen daran, trotz der Fokus­sie­rung auf die Frau keinen femi­nis­ti­schen Klipp­schu­len­film zu reali­sieren.

Zwar würde die Geschichte norma­ler­weise dem Mann von zu Hause weg folgen, um die Schrecken des Krieges zu zeigen, hier nun sehen wir Viviennes Leben. Doch die Verge­wal­ti­gung bleibt ohne unmit­tel­bare Folgen, der Umgang mit ihr ist nicht der, dass Vivienne nun »trau­ma­ti­siert« zu sein und entspre­chend zu reagieren hat. Und auch ihr Blick auf die Umgebung und auf den abwe­senden Götter­gatten ändert sich nicht.

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Obwohl die Handlung sehr vorher­sehbar ist, und gele­gent­lich gestreckt, zudem durch einen Katarakt aus Rück- und Voraus­blenden zerhäck­selt, ist der Film insgesamt sehr gut gespielt, und strahlt einen starken Huma­nismus aus. Mortensen lässt in fast jeder Einstel­lung seinen persön­li­chen Geschmack und seine Inter­essen in den Film einfließen: die Rassen­mi­schung*, die so typisch für eine Zeit war, in der die Städte von Einwan­de­rern geprägt waren, die Wort­spiele, die große Bedeutung der Literatur und der Bildung in dieser Welt (Morten­sens Holger liest ständig) und die Symbiose von Mensch und Pferd im »Zeitalter des Pferdes«.

Man hat aller­dings den starken Eindruck, dass sich der Regisseur und Autor Mortensen nicht so recht entscheiden will (oder kann?) zwischen Autoren­film-Realismus und jener tollkühn-spie­le­ri­schen Über­höhung, die das Unter­hal­tungs­kino verlangt. Zwischen dem poetisch-nach­denk­li­chen Slow-Cinema des modernen Kunst­films, in dem er als Schau­spieler vor allem im Kino Argen­ti­niens große Triumphe feierte, und der Reverenz an die Konven­tionen des Genres, das er nun einmal gewählt hat: Denn zum Western gehört auch die Lust am Klischee, an Stereo­typen und Mythen. Gerade von dieser Lust merkt man in diesem Film viel zu wenig: So etwa ist die weibliche Haupt­figur der Vivienne einfach eine in die ameri­ka­ni­sche Natur verpflanzte höhere Tochter aus Frank­reich, die etepetete mit den Zuständen fremdelt, der aber nie die Härte anzu­merken ist, die es nicht nur Frauen kostet, in dieser primi­tiven Wildnis zu überleben.

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Dieser Film ist ein Zwitter: Für einen Liebes­film ist er zu hart und unro­man­tisch, für einen Western zu kitschig und actionarm. Am ehesten an klas­si­sches Western­kino erinnern die präch­tigen Bilder und die starken Figuren. Erst am Ende des Films lässt sich der Regisseur auf das Genre und dessen Regeln ein. Doch wirken diese Sequenzen wie aufge­setzt, ohne Kraft. Mortensen ist sich dessen bewusst und über­treibt es als Regisseur nicht mit der Dramatik, während sich seine Figur auf ebenso lako­ni­sches wie einprä­gendes Handeln beschränkt.
In seinen besten Momenten ist dies ein melan­cho­li­scher Spät­wes­tern in der Tradition von Clint Eastwood.

* Der Begriff »Rasse« wird von mir auch in anderen Texten in Anlehnung an den anglo­ame­ri­ka­ni­schen Sprach­ge­brauch verwendet. Race im Sinne der Cultural Studies ist vor allem ein kultu­relles Konstrukt, das als diskur­sive Kategorie reale Auswir­kungen auf die gesell­schaft­liche Realität besitzt.