Deutschland 2017-23 · 214 min. · FSK: ab 6 Regie: Hans Jürgen Syberberg Drehbuch: Hans Jürgen Syberberg Schnitt: Hans Jürgen Syberberg |
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Eine Auseinandersetzung in Wort und Bild... | ||
(Foto: Filmgalerie 451) |
Eigentlich ist es eine Sensation. Sie hat sich nur noch nicht richtig rumgesprochen und das sowieso etwas dämliche Berlin ist viel zu provinziell und allemal viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um überhaupt zu merken, was in der Welt passiert. Oder gerade in seiner Mitte.
Aber an diesem Donnerstag hat, nach fast 30 Jahren, ein neuer Kinofilm von Hans Jürgen Syberberg Premiere.
Syberberg? Da werden viele Leute gar nichts denken, und manche das Falsche. Darum ein paar Anmerkungen zur Erinnerung.
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In den 1970er Jahren hat er sich gegen eine verengte Rationalität gewandt, und war gewissermaßen ein Postmoderner avant la lettre. Vor allem aber, so scheint mir, ist Syberberg ein Anti-Realist, einer, der mal mit Mitteln der Überhöhung, mal der Farce, mal des Dokumentarfilms in den Dingen des Lebens, des Gegenwärtigen, sucht und stöbert.
Seine Filme folgen der These der Filmphilosophin Heide Schlüpmann, dass das Thema Seele nach Schopenhauer von der Philosophie ignoriert wurde und deswegen gewissermaßen abgewandert ist in das Kino.
Was Syberberg immer schon hochinteressant machte, und gleichzeitig für alle guten braven Deutschen und ihr »Ethos der Heinzelmännchen« (Karl Heinz Bohrer) grundsätzlich verdächtig: Er bearbeitet die unangenehmen verdrängten deutschen Themen: Kitsch und Karl May; die böse Kunst und die amoralische Ästhetik, also Richard Wagner; die böse Politik, also Hitler. Zweitens hat er eine große Nähe zur deutschen Romantik, insbesondere zu Kleist, er liebt Kleist, den er mehrfach verfilmt hat, und das ist wunderbar. Drittens ist er derjenige, der auf politische Weise vom Unpolitischen erzählt.
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»Je länger man mit Syberberg zusammen ist, desto stärker wird der Eindruck, dass er ein genialisches, kindliches, empfindsames, zerrissenes Medium der deutschen Geschichte ist. Auch ein Teil des deutschen Wahnsinns, von dem sein Werk handelt. Und so absurd und diffus er manchmal als Kulturkritiker argumentieren mag, so absurd wäre es auch, ihn deshalb als Künstler zu diffamieren.
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Widerstand ist das Stichwort. Widerstand gegen den Widerstand der Welt. Widerstand gegen
den Zeitgeist und die Moden des Kinos. Widerstand gegen die Geschichte, die eine Kindheit in Pommern beendet hat. Widerstand gegen den Schnee.«
(Katja Nicodemus)
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Syberbergs neuestes Werk Demminer Gesänge, das heute Premiere hat, und in den nächsten Wochen Ort für Ort durch die deutschen Qualitätskinos reisen wird, ist eine Auseinandersetzung in Wort und Bild mit der Stadt Demmin, in deren Umgebung er als Kind aufwuchs. Der Film nimmt Bezug auf die Geschichte des Ortes, in dem sich am Ende des Zweiten Weltkrieges einer der größten Massensuizide in Deutschland zutrug – der danach aus dem öffentlichen Gedächtnis schnell verdrängt wurde. Er dokumentiert die Versuche, von Syberberg in den letzten Jahrzehnten selbst in Form von künstlerischen Interventionen vor Ort angestoßen, den zentralen Marktplatz als Gemeinschaftsort zu reanimieren. Mit Planen und Baugerüst wurde so etwa für kurze Zeit das Café Zilm wiederbelebt, und in ihm Filme gezeigt, gesungen und Kaffee ausgeschenkt. Seitens zweier Architekturbüros (Alexander Schwarz von David Chipperfield Architects und Peter Haimerl Architektur) lagen sogar konkrete Pläne einer Umgestaltung des Platzes vor. Der Film findet hier Anschluss an Fragen zukunftsträchtiger Städteplanung. Es geht Syberberg nicht um eine Restauration alter Verhältnisse, sondern um die Fragen der Gemeinschaft an einem Ort, der sein Zentrum verloren hat.
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So kündigt Hans Jürgen Syberberg den Film selber an:
»Zu Beginn, 70 Jahre nach dem großen Brand der Stadt, selbst erlebt aus dem Dorf nebenan, zurückgekommen auch dort in Nossendorf.
Zurückgekommen, aus der Erinnerung der Toten, Frauen und Kinder in den Flüssen am Ende des Krieges, in Demmin am Ende der Welt, in der Vision aus der NACHT vor 40 Jahren am immer noch leeren Platz im Zentrum der Stadt.
Ein Versuch, den Markt wiederherzustellen als Kulisse für fünf Sommer, fünf Jahre lang. Den Menschen dort ihr Zentrum
wiederzufinden und sei es für die kurze Zeit eines Films.
Zu erleben nun, wie sie es aufnehmen und antworten mit einem Marktleben wieder, und Gesängen, von früher aus der Schule oder beim Schlafengehen oder in der Kirche, im Café Zilm, wieder aufgebaut für kurze Zeit, mit Filmen, die wir mitbrachten, auch mit Plänen aus Berlin und Stuttgart und München oder Mailand, alles neu herzustellen.
Ein Theater aus Berlin auf dem leeren Platz zwischen Plattenbauten und Kirchturm, dass alle
kamen.
Die Stadt der Hanse früher und der Ulanen und der Russen dann.
Tag für Tag aus dem Tagebuch nach der Rückkehr notiert am Computer und fotografiert wie gefilmt, von einem der es weiß wie.
Auch wie man das erzählt, nun in Berlin, wo damals die Mutter lebte in den Nächten der Bomben.
Im einzig durch sie überlebenden Haus in der Regensburger Strasse 36.«
Mit Überlebenden in Demmin und deren Nachkommen, und der Lehrerin (97), die alle kennen von den Gesangstunden, und mit Karl Schlösser, dem Maler und Autor seiner Kindheitsgeschichte aus D. auch mit W. Esch, der das alles weiß und mit organisierte, so die Bürger, die dafür Geld gaben, dass das entstand.
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Der Film wurde von der Berlinale 2023 abgelehnt, was ja auch nur für ihn spricht, und ein Argument ist, ihn sich jetzt anzuschauen.
Am Donnerstagabend um 20 Uhr in der Berliner Volksbühne, am 17. Dezember in München im Werkstattkino, jeweils in Anwesenheit des Regisseurs.
Und dann in weiteren guten deutschen Kinos.