Polen/Israel 2015 · 94 min. · FSK: ab 12 Regie: Marcin Wrona Drehbuch: Marcin Wrona, Pawel Maslona Kamera: Pawel Flis Darsteller: Itay Tiran, Agniezka Zulewska, Tomasz Schuchardt, Tomasz Zietek, Andrzej Grabowski u.a. |
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Eine Hochzeit als Horrortrip – ist das nicht immer so, irgendwie? |
»Ein Dibbuk (auch Dybuk oder Dybbuk genannt; Pl. Dibbukim; hebräisch דיבוק = ›Anhaftung‹) ist nach jüdischem Volksglauben ein oft böser Totengeist, der in den Körper eines Lebenden eintritt und bei diesem irrationales Verhalten bewirkt.« – Wikipedia
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Der in London lebende Piotr (Itay Tiran) kehrt in sein Heimatland zurück, um die hübsche Żaneta (Agnieszka Zulewska) zu heiraten. Piotr kennt auch Żanetas Bruder Jasny (Tomasz Schuchardt), ist anscheinend sogar zusammen mit diesem aus England angereist. Dahingegen erscheint der Vater der Braut (Andrzej Grabowski) ein wenig skeptisch gegenüber dem Schwiegersohn in spe aus der Fremde. Trotzdem schenkt er dem Brautpaar ein kleines, ein wenig heruntergekommenes Anwesen, wo auch die Hochzeitsfeier stattfindet. Dort hatte Piotr am Vortag bei Baggerarbeiten menschliche Knochen im schlammigen Boden entdeckt, seinen Fund jedoch einfach ignoriert und sofort wieder mit Erde bedeckt. Doch dann sieht Piotr während der laufenden Feierlichkeiten seltsame Dinge und macht eine höchst erschreckende Wandlung durch.
Der Dibbuk ist ein Film, der insbesondere über seine dichte bedrohliche Atmosphäre funktioniert. Die sorgfältig kadrierten Bilder in tristen Brauntönen von Pawel Flis erzeugen in Verbindung mit der atonalen Musik des Avantgarde-Komponisten Krzysztof Penderecki eine beklemmende unheilvolle Spannung, in welcher der Zuschauer ähnlich stecken bleibt und versinkt, wie die Protagonisten im dicken Morast des Grundstücks, auf dem die Feierlichkeiten stattfinden. Dass dort menschliche Gebeine zum Vorschein kommen, ist für den Zuschauer eine Bestätigung für die bösen Vorahnungen, die ihn bereits von der ersten Einstellung an ergriffen haben.
Überhaupt die Stimmung: Der Dibbuk verbindet eine starke naturalistische Grundstimmung mit dem zunehmenden Einsetzen irrationaler und phantastischer Elemente. Das Besondere hierbei ist jedoch, dass beides nicht miteinander kontrastiert wird, sondern auf organische Weise das eine aus dem anderen hervorgeht. Dies ist konsequent im Kontext eines alten jüdischen Volksglaubens und zeigt, dass es dem Filmemacher Marcin Wrona sehr ernst mit der von ihm gewählten Thematik des bösen Totengeists ist.
Im Gegensatz zu den meisten Mainstreamhorrorfilmen greift er mit dem jüdischen »Dibbuk« nicht bloß eine alte Sagengestalt auf, um anschließend in relativ sinnfreier Weise möglichst viel (CGI-)Blut fließen zu lassen. Ganz im Gegenteil dienen in Der Dibbuk die Horrorelemente einer möglichst plastischen Darstellung von Themen, die in ihrem Grunde ähnlich abstrakt wie die den Film begleitende Musik ist. Das Ergebnis ist ein Werk in der äußerst unwahrscheinlichen Schnittmenge aus den beiden Besessenheits-Klassikern Der Exorzist (1973) und Shining (1980) sowie aus Thomas Vinterbergs Dogma-Meisterwerk Das Fest (1998), in dem Familienfeierlichkeiten aus dem Ruder laufen.
Hinter den irgendwann schemenhaft sichtbar werdenden historischen Begebenheiten wird in Der Dibbuk die ambivalente Bedeutung von Familie und allgemein von Gemeinschaften verhandelt. Nicht zufällig wird in einer der Reden ausdrücklich auf die tiefere Bedeutung von Hochzeit als eine Form der Aufnahme in eine bestehende Gemeinschaft hingewiesen: »Der Mensch wird erst durch die Gemeinschaft ein Mensch. Ohne Gemeinschaft kann er nur ein Gott oder ein Tier sein.« Kein Wunder auch, dass ausgerechnet Piotr diese Ambivalenz auf besonders heftige – und extrem körperliche – Weise zu spüren bekommt, bis sie ihn schier zu zerreißen droht. Der Dibbuk steht hier auch für eine Leerstelle in dieser äußerlich so harmonischen Gemeinschaft, für das Verdrängte und das nicht Gewollte.
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Man kann nur darüber spekulieren, in wieweit die Themen seines Films Marcin Wrona möglicherweise auch persönlich angingen: Am Tag nach der Weltpremiere von Der Dibbuk nahm sich der vielversprechende polnische Filmemacher das Leben.