Deutschland 2019 · 125 min. · FSK: ab 12 Regie: Christian Schwochow Drehbuch: Heide Schwochow Kamera: Frank Lamm Darsteller: Levi Eisenblätter, Tobias Moretti, Ulrich Noethen, Maria Dragus, Johanna Wokalek u.a. |
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Zerrieben zwischen Pflicht und Pathos |
»Nein, Wolfgang Mackenroth, es war so und war doch nicht so. Ich konnte nicht weiterlesen, da war zuviel verschwiegen, zuviel auf angenehmen Gegensatz gebracht; wo er mich schuldig sprach, tat er es, um mir mildernde Umstände zu verschaffen, und ich brauchte alles andere als mildernde Umstände.« – Siegfried Lenz, Deutschstunde
Die Monolithen deutscher Literatur zu verfilmen, ist immer ein schwieriges Unterfangen. Nicht nur weil Generationen von Schülern durch die Schullektüre einen eigenen Film im Kopf haben und ein Abgleich mit der eigenen Erinnerung fast zwangsläufig in einer Katastrophe enden muss – man denke nur an Fassbinders Besetzung der Effi mit Hanna Schygulla in seiner Effi Briest-Verfilmung. Nein, sondern auch, weil jede Generation einen eigenen Zugriff auf das Werk beansprucht und es dementsprechend zu etwas Neuem transformieren kann, ja muss.
Einer dieser fast unantastbaren Monolithen der deutschen Literatur ist Siegfried Lenz' 1968 veröffentlichte »Deutschstunde«. In der Hochzeit medialer Aufmerksamkeit gegenüber Lenz, als Lenz sogar höchstpersönlich als Rahmenerzähler seiner Kurzgeschichtensammlung »So zärtlich war Suleyken« 1971 im öffentlichen Fernsehen auftrat, erschien auch die bislang einzige Verfilmung der »Deutschstunde«, als ARD-Zweiteiler. Dass es keine weiteren Versuche gab, diesen Roman über die doppelbödige Verschränkung von Schuld und Pflicht im Nationalsozialismus zu verfilmen, lag nicht nur daran, dass Lenz seinen Roman erstaunlich ambivalent und gänzlich pathosfrei formulierte, sondern auch an der Rahmenerzählung, die beispielhaft für den Erfolg einer Schreibtherapie steht und in ihrer monologischen Dichte filmisch eigentlich nicht umzusetzen ist.
Dementsprechend hatte sich der Fernsehzweiteiler auf die politischen Aspekte und die von Lenz markant intonierte, grandiose Landschaft der Nordseeküste konzentriert. Und so macht es auch die Neuverfilmung von Christian Schwochow, auf der Grundlage eines Drehbuchs seiner Mutter Heide Schwochow. Schwochow, der in den letzten Jahren durch seinen Film über Paula Modersohn-Becker und seine Regie für die Serie »Bad Banks« gezeigt hat, wie souverän er mit völlig konträren Genres arbeiten kann, vertraut in seiner Literaturverfilmung allerdings nur in Ansätzen der literarischen Vorlage.
Die Rahmenerzählung wurde auf einen kargen Rahmen zurechtgestutzt, der nicht mehr als die düsteren Räume der Jugenderziehungsanstalt zeigt, in der der 20-jährige Siggi (Tom Gronau) seinen Aufsatz über »Die Freuden der Pflicht« nicht im regulären Unterricht abliefern kann und ihn deshalb in Einzelhaft nachschreiben soll. Über diese »Schreibtherapie« dringt Siggi in die Tiefen seiner eigenen Vergangenheit und die Wurzeln seines »kriminellen« Verhaltens. Und damit in die Endphase des Dritten Reiches, das Lenz exemplarisch in den gesellschaftlichen Mikrokosmos eines kleinen Kaffs an der Nordseeküste überführt, in dem Siggis Vater Jens Jepsen (Ulrich Noethen) als Dorfpolizist und politischer Vollstrecker des Regimes in Berlin seinem alten Jugendfreund, dem Maler Max Nansen (Tobias Moretti) – den Lenz dem 1968 noch nicht »enttarnten« Emil Nolde nachempfunden hatte – nicht nur sein Berufsverbot mitteilen muss, sondern dieses auch überwachen soll. Über diese »Pflichterfüllung« wird allerdings nicht nur die alte Freundschaft der beiden Männer »zerrieben«, sondern auch das Kind Siggie (Levi Eisenblätter), der es jeder seiner Bezugspersonen Recht machen will.
Die Stärke von Lenz' Buch liegt vor allem an seiner immer wieder auch ausschweifenden Ambivalenz und an einem Personal, das jeder Stereotypisierung konsequent ausweicht. Heide Schwochow hat sowohl Handlungsabläufe als auch das Personal entschlackt und die Grauzonen des Romans in stärkere Kontraste gesetzt. Das bedeutet vor allem eine stärkere Fokussierung auf die zunehmende Sprachlosigkeit zwischen Pflichterfüllern des Regimes und denen, die ihm widersprechen. Damit gelingt es Schwochows Deutschstunde einen offensichtlichen Bogen in unsere Gegenwart zu schlagen, in der ähnliche Szenen im Privaten zunehmend Realität werden, in der die populistische Ausrichtung der politischen Landschaft zunehmend ins Private eindringt und Dialoge ähnlich einfrieren wie es Schwochow über die beiden Kernfamilien in Deutschstunde eindringlich vorführt.
Für diese zarte Andockung an unsere Gegenwart zahlt Schwochow jedoch einen hohen Preis. Seine ausgedünnte Personaldecke folgt kontrastreichen Schwarz-Weiß-Mustern, Stereotypen, die für etwas stehen, stehen sollen. Dafür hat Heide Schwochow etwa von Lenz auch heute noch überraschend und modern gezeichnete Charaktere wie Siggies Mutter Gudrun (Sonja Richter) »umgeschrieben«. Ist Gudrun bei Lenz im Grunde die »männliche« Erfüllungsgehilfin des Reiches, eine in ihrer »Selbstermächtigung« moderne Frau, die ihren Mann dazu drängt, den älteren, desertierten Sohn Klaas (Louis Hofmann) der Polizei auszuliefern, ist sie bei Schwochow gerade die nicht »politisierte«, »schwache«, »klassische« Mutter, die Siggie Lebensmittel für den Bruder zusteckt, statt seine Auslieferung einzufordern. Diese charakterliche »Zuspitzung« gilt auch für andere Handlungsabläufe und Protagonisten. Statt seine Auslieferung zu überleben, stirbt der ältere Bruder; nimmt die Frau vom Maler Jansen, Ditte (Johanna Wokalek), nicht einfach nur Abschied von ihrem Mann, als er verhaftet wird, sondern stolpert dem abfahrenden Wagen hinterher, um dann auch noch zu stürzen und – nach wenigen Schnitten – gleich darauf zu sterben.
Dieser Pathos, der in seinen moralischen Abgrenzungsbestrebungen auch unmittelbarer Nachkriegsliteratur und Filmen eigen ist (z.B. Bruno Apitz' Nackt unter Wölfen), stört immer wieder, umso mehr, als er durch die massive Nutzung von Leerstellen im Laufe des Films zunehmend verstärkt wird. Das gibt dem überragend fotografierten Film (und dem großartigen lyrischen Abspann, der sich wie eine subtile Antwort auf Robert Schwentkes Abspann in seinem Hauptmann sieht), dessen Einstellungen oft Gemälden gleichen, etwas aus der Zeit Gefallenes, Historisches und lässt Lenz' über 50 Jahre alten Roman wie das gegenwärtige, viel modernere Gegenstück zu Schwochows Film erscheinen.