Niederlande/D/B 2015 · 88 min. · FSK: ab 12 Regie: Sacha Polak Drehbuch: Helena van der Meulen Kamera: Frank Van den Eeden Darsteller: Wende Snijders, Sascha Alexander Geršak, Barry Atsma, Tristan Göbel, Martijn Lakemeier u.a. |
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Auf der Jagd nach den zerbrochenen Fragmenten der Vergangenheit |
Es war Luis Buñuel (Ein andalusischer Hund, 1929), der erstmalig auf die Ähnlichkeit von Kino und Traum hinwies. Der spanische Surrealist ging sogar so weit zu erklären, dass das Kino erst dann zu seiner wahren Bestimmung gefunden haben wird, wenn es sich nicht mehr der Abbildung der äußeren, sondern der Darstellung einer inneren Wahrheit widmet.
Sascha Polaks zweiter Spielfilm Die getäuschte Frau beginnt mit einem surrealen Bild. Eine Frau entsteigt einem Auto, das von der Straße abgekommen ist, und sieht sich einem auf der Straße befindlichen Geparden gegenüber. Der Vorfall findet keine sachliche Erklärung, besitzt dafür jedoch einen umso stärkeren Symbolgehalt. Bei der Frau handelt es sich um die Sängerin Nina (Wende Snijders), die auch im Leben aus der Spur geworfen ist. Der Gepard? Er ist schwerer zu deuten. Er könnte für das Wilde, Ungezähmte von Ninas Charakter stehen. Wie so vieles andere in diesem Film auch bleibt das Bild jedoch uneindeutig, zugleich verschwommen und mehrschichtig. Dieser Gepard ist kein Bild der äußeren Welt, sondern ein in der sichtbaren Welt manifest gewordenes Traumbild. Er verklammert zudem die erste mit der letzten Szene des Films. Am Ende sieht man Nina zusammen mit einem Hund auf einer Straße. Aber jetzt ist alles anders. Der Unterschied in den beiden Bildern fasst zusammen, was in den knapp 90 Minuten zuvor zu sehen war.
Die getäuschte Frau hat die Form eines Puzzles, das in einem wilden Akt am Rande des Wahnsinns durcheinander geworfen wurde. Der zweite Teil steht jetzt am Anfang und erst der folgende erste Teil bringt Licht in die Geschehnisse. Trotzdem bleiben zahlreiche Brüche und Leerstellen. Nicht alle Fragen werden beantwortet. Sascha Polak (Hemel, 2012) geht in der Visualisierung von Ninas Innenleben über die Verwendung symbolträchtiger Bilder weit hinaus. Die gesamte Struktur des Films gerät zum Spiegel von Ninas Innenleben. Es ist ein Leben, das in Scherben liegt. Entsprechend fragmentarisch und nicht chronologisch ist der gesamte Film.
Etwas ganz Ähnliches gelang kürzlich dem griechischen Filmemacher Syllas Tzoumerkas in A Blast (2014). Auch dies ist ein Film über eine Frau, deren Leben komplett aus den Fugen geraten ist und die von den ihr am nächsten stehenden Personen betrogen wurde. Doch bei Tzoumerkas ist die Geschichte überdeutlich als eine Parabel auf die aktuelle Griechenlandkrise erkennbar. Die getäuschte Frau ist hingegen viel intimer. Nina steht nur für sich. In A Blast wird die Lebenskrise für Maria zum Ausgangspunkt für einen radikalen Befreiungsschlag, bei dem sie alles, was ihr bis dahin lieb und teuer war, hinter sich lässt. Nina ist hingegen noch nicht einmal in der Lage überhaupt an das Machen von Plänen zu denken. Sie ist ein Drifter in ihrem eigenen Leben, klammert sich hilflos an den Erstbesten, der ihr Schutz geben könnte, und jagt ansonsten bloß den zerbrochenen Fragmenten ihrer Vergangenheit hinterher.
Ninas Leben ist ein Leben auf der Durchreise, ein Pendeln zwischen Deutschland und Holland, ein Leben auf der Autobahn und in billigen Lokalen und Raststätten. Ninas Mann war Fernfahrer. Sein Laster kam jedoch von der Straße ab. Über die genauen Gründe kann man nur Vermutungen anstellen. Jetzt schmeißt sich Nina an den Fernfahrer Matthias (Sascha Alexanders Gersak) ran. Es ist der Beginn einer stürmischen Affäre; aber zu einer echten Beziehung ist die innerlich zerrissene Nina gar nicht in der Lage. Die verhält sich vollkommen egozentrisch, irrational und impulsiv. An einer Stelle klaut sie spontan einen Hund aus einem fremden Garten und nennt ihren neuen Begleiter ab sofort einfach „Hund“. Später verstehen wir, dass diese Tat doch einen – gleichsam irrationalen – jedoch konkreten Anlass hatte. Es ist einer der Momente, in dem sich die zunächst scheinbar komplett zusammenhanglosen Fragmente plötzlich, wie bei Tetris, zu einzelnen Formationen zusammenfügen. Aber auch, wenn sich somit einige rätselhafte Fragmente auflösen, bleibt eine Gesamtlösung aus.
Immer neue Fragmente stürzen auf Nina und mit ihr auf den Zuschauer ein. Im letzten Bild kulminiert Ninas gesamtes, vergebliches Sisyphos-Ringen konsequenterweise in einem Bild reiner, grenzenloser existentieller Verzweiflung.