Großbritannien 2019 · 130 min. · FSK: ab 12 Regie: Asif Kapadia Drehbuch: Asif Kapadia Musik: Antonio Pinto Schnitt: Chris King |
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Porträt eines verlorenen, ängstlichen Menschen |
»Wenn du das Spielfeld betrittst, wird das Leben unwichtig; die Probleme werden unwichtig; alles wird unwichtig.« – Diego Armando Maradona
Es war vielleicht der allergrößte Moment in der an großen Momenten reichen Karriere des Diego Armando Maradona: Das Tor des Jahrhunderts bei der Weltmeisterschaft 1986 im Viertelfinalspiel zwischen Argentinien und England. Vier Jahre zuvor hatten sich beide Staaten noch im Falklandkrieg militärisch gegenüber gestanden. Dann nahm Maradona und die »Hand Gottes«, wie er das nannte, Rache für die Kriegsniederlage und eine gedemütigte, in sich zerrissene Nation. Am Ende wurden Maradona und Argentinien Weltmeister gegen Deutschland.
Nun erzählt der Brite Asif Kapadia – für seinen Dokumentarfilm Amy über Amy Winehouse gewann er 2016 den Oscar – die Lebensgeschichte Maradonas in Form eines Dokumentarfilms. Es ist mitreißendes Kino, gespeist durch die Passion des Objekts, die Leidenschaft des Regisseurs und unglaubliches Filmmaterial. Denn Kapadia durchwühlte nicht nur offizielle Archive, er entdeckte auch viele Stunden Material eines Kameramanns, der Maradona am Anfang seiner Karriere auf Schritt und Tritt begleitet hatte.
Es sind atemberaubende Bilder und Momente, von denen dieser Film lebt und die weit über Fußball und Stoff für Fußballinteressierte hinausgehen: Etwa jene von der allerersten Pressekonferenz, die Maradona nach seiner Ankunft in Neapel gegeben hat. Was das noch für Autos waren: Nicht Stretchlimousinen mit getönten Scheiben, sondern kleine Fiats. Das Stadion riesig, Beton, heruntergekommen, aber doch ein Kolosseum.
Die allererste Frage auf dieser allerersten Pressekonferenz lautet: »Ich möchte wissen, ob Maradona weiß, was die Camorra ist. Und ob er weiß, dass das Geld der Camorra hier überall ist, auch im Fußball.« Bevor Maradona antworten kann, sagt der Moderator: »Einen Moment bitte, diese Frage beantwortet der Präsident des SSC Neapel, Corrado Ferlaino.« Dessen Antwort: »Diese Frage ist eine Beleidigung. Es beschämt mich, dass ein Journalist sowas fragt. Diese Frage werde ich nicht beantworten.« Dazu massiver Applaus, im Publikum schreien einzelne Stimmen: »Fuori!«, »Verschwinde!«. Ferlaino steht auf, zeigt mit gestrecktem Zeigefinger auf den Fragesteller: »Ich möchte Sie bitten, zu gehen; gehen Sie! Verschwinde auf der Stelle!! Sofort!!! Hiermit verweise ich Sie des Raumes. Niemand kränkt Neapel durch so dumme Fragen. Wir haben so viel geopfert für diesen Transfer, wir sind die erbärmlichen Behauptungen leid, dass in Neapel überall die Camorra mitmacht; die Leute arbeiten hart; das ist nur eine Minderheit; die Polizei geht hart gegen sie vor. Danke!«
Dieser Mittelteil ist am Wichtigsten. Darin schildert Kapadia ausführlich, wie Diego, das Kind aus dem argentinischen Proletariat, in denen jeden Sonntag das Fußballspiel eine Revanche ist für die Demütigungen der vorangegangenen sechs Tage, den Schritt nach Europa wagte, dort zuerst beim feinen katalanischen Bürgerclub FC Barcelona scheiterte – unvergesslich die Szenen aus dem Spiel gegen Athletic Bilbao, in denen es zu Ausschreitungen auf dem Spielfeld kommt und Maradona auf Gegenspieler mit gestreckten Bein losgeht – , und danach dann zum proletarischen Underdog SSC Neapel wechselte, der noch nie Meister geworden war und sich immer als süditalienischer Außenseiter fühlte. Hier war Maradona am richtigen Ort, weil er siegen wollte, und weil er nur als Underdog siegen konnte; er machte diesen Club groß und sich selbst damit unsterblich.
»Was erwarten Sie von Neapel« wird Maradona kurz nach seiner Ankunft gefragt, und er antwortet nur: »Ich erwarte Ruhe, Ruhe, die ich in Barcelona nicht hatte. Aber vor allen Dingen Respekt.« Ruhe würde er nicht bekommen, Respekt dagegen schon.
Als er kam, hatte Neapel mit Glück den Abstieg vermieden. Der Fußballhistoriker mit dem schönen Namen John Foot erklärt im Film, dass Neapel damals eine merkwürdige Welt war, die Serie A eine reiche Liga. Der SSC Neapel dagegen hatte in seiner
Geschichte gerade zwei Pokale gewonnen, mehr nicht. Nicht eine einzige Meisterschaft. »Es war kein Verein mit Erfolg, oder mit Erfolg in Aussicht.«
»Ich bat um ein Haus und bekam eine Wohnung, ich bat um einen Ferrari und bekam einen Fiat.«
In der ersten Saison Maradonas 84/85 beendet Napoli die Meisterschaft auf dem achten Platz. Dann wurden sie Meister. Bei Diego war kein Muskel wichtiger als der Kopf, heißt es, dadurch war er besser als die anderen. Im Fußball dreht sich alles ums Täuschen, und Maradona täuscht immer wieder in den Spielausschnitten eine Richtung an und läuft in die andere – im Gegensatz zum Gegner.
Die Zuschauer lernen Diego Maradona in diesen Passagen in seinen Abgründen kennen wie in seiner Brillanz. Vor allem aber als einen ziemlich verwundbaren Charakter. Er wirkt stark von außen, aber er ist erkennbar schwach in seinem Inneren. Wenn der Film in den Großaufnahmen genau auf ihn blickt und in sein Gesicht schaut, dann sieht er einen ziemlich verlorenen, ängstlichen Menschen. Maradona erscheint somit als ein Charakter, der eigentlich immer ein Heim gesucht hat und eine Familie. Als er erfolgreich wurde, hat ihn eine unsichtbare Macht von diesem Ziel weggezogen. Nie wieder konnte der Weltstar sich, wenn er geliebt wurde, sicher sein, dass er nicht nur für sein Geld geliebt wurde.
So ist der Film Diego Maradona nicht so sehr Fußballgeschichte als Kulturgeschichte. Und vor allem furioses, spannendes, unterhaltsames Kino. Kapadia zeigt Rivalitäten, er erzählt von dem Druck, der auf Sportlern lastet, und dringt ein in die Psychologie eines großartigen, über alle Konkurrenten erhabenen Athleten.
»Diego und Maradona waren zwei unterschiedliche Menschen« sagt Fernando Signorini, der Personal Trainer Maradonas in Neapel, »Diego war ein liebenswerter Mensch aber unsicher; Maradona war die Figur die ihm half, den Anforderungen des Mediengeschäfts gewachsen zu sein, und denen des Fußballs natürlich.«
Darüber hinaus ist Kapadias Film auch ein Lehrstück über Popkultur. Im Fußball stand Maradona für eine neue Generation, die ersten Stars: »Ich feiere, wann ich will« formuliert das Credo der hedonistischen 80er Jahre. Und Pele, ein Repräsentant der alten Generation, sagt über Maradona: »Er besitzt ein großes Talent, aber psychisch ist er nicht dazu in der Lage, die Verantwortung zu tragen.« Ein bemerkenswerter Irrtum.
Anhand von Maradona zeigt Kapadia die schizophrene
Natur der Popkultur, wie sie den Menschen aufspaltet in ein humanes, privates Wesen auf der einen Seite und die Star-Persona und das öffentliche Image auf der anderen. Wie die Medien ihre Stars benutzen und aus den Menschen Objekte der öffentlichen Kultur machen, wie wir glauben, sie zu besitzen.
Wie schon in seinen Filmen über Ayrton Senna und Amy Winehouse erzählt Kapadia von einem gefallenen Engel. Von einem Kinderstar und frühen Genie, das keine Chance hatte, aufzuwachsen.
So ist sein Film auch ein nostalgischer Gegenentwurf zu einer Gegenwart, die aus digitalen Charakteren besteht. Diese spiegeln sich fortwährend narzisstisch selbst, perfektionieren sich obsessiv; versuchen in Selfies auf Facebook und Instagram ihr Image zu monetarisieren – zu Geld zu machen. Maradona wollte vor der Kamera nicht perfekt sein, er wollte er selbst sein.
Kapadia erscheint einmal mehr als ein Regisseur mit den Methoden eines Pop-Art-Künstlers. Er nimmt einen Charakter, den das Publikum bereits kennt, und übermalt ihn gewissermaßen, bearbeitet sein Image, stellt das Bekannte in einen neuen Rahmen und gibt ihm neue Perspektiven.