USA 2017 · 90 min. Regie: Travis Wilkerson Drehbuch: Travis Wilkerson Kamera: Travis Wilkerson Schnitt: Travis Wilkerson |
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Reise ins Herz der Finsternis. Dothan, Alabama. Motorway to hell, im Kriechgang, Schritt-Tempo wäre zu schnell. Am Steuer sitzt Travis Wilkerson, driving by shooting, Auto und Kamera zu einer Zeitmaschine vereint. Travis nimmt uns mit in die Vorgärten seiner Kindheit, Zeugen eines Rätsels seiner Vorkindheit zu sein, drosselt selbst das Tempo seiner slow-motion-Gitarrenmusik aus dem Grund, die Ausfahrt in die Vergangenheit besser zu finden. Bringt uns das Beunruhigende in beruhigendem Tonfall näher, in einem murmelndem Fluss, der klingt wie Bob Ross, der verspricht: »This is a white nightmare.« Da malt er sie sogar an, die böse Bilderreise, pinselt das Schwarzweiß blutigrot. Blood Relations hatte der Film in einer ersten Fassung von 2016 getitelt. Der jetzige Titel knüpft besser an Wilkersons letzten an: Machine Gun or Typewriter? von 2015. Denn die Sache mit der Blutsverwandtschaft liefert jetzt der titelgebende Song des Protestsängers Phil Ochs in der Antwort auf die Frage »Did you know who fired the gun?« mit: »It was you!« Travis Wilkerson macht – wie er es nennt – kleine, handgemachte Filme, in der Regel über sich selbst, in der Regel über Rassismus und Krieg. Und diesmal geht das Persönliche ans Eingemachte, an seine Familiengeschichte: Im Oktober des Jahres 1946 tötete der Urgroßvater in seinem Lebensmittelladen in Dothan, Alabama, mit vier Schüssen einen Mann. Bill Spann, ein Schwarzer. Travis Wilkerson ist weiß.
Der Fall wurde damals sogar als Mord verurteilt, nicht aber der Täter. Travis' Urgroßvater blieb unbescholten. Wie konnte das sein? Ehe sich Travis auf Spurensuche begibt, stellt er zunächst klar, kein »white saviour« sein zu wollen. Kein Atticus Finch, den Harper Lee für ihren berühmten Roman »To Kill A Mockingbird« allein deswegen erfunden habe, um in seiner Integrität als weißer Verteidiger das Gewissen der Nation beruhigen und reinwaschen zu können. Atticus Finch, frei von Fluch, frei von harschem Gefühlsausbruch, sei kein Mensch gewesen. Sicher kein Mensch, der dort ums Eck von Travis Urgroßvaters Dorf existieren konnte, so Travis. Nein, diesmal soll nichts entschuldigt werden. Diesmal wird kollektive Anklage erhoben. In der Herstellung von Bezügen zur Kulturproduktion erfährt der Film eine Kennzeichnung als Parallelspur zu I Am Not Your Negro, wo James Baldwin die Helden seiner Kindheit anführt, sein Verhältnis zu ihnen hinterfragt, und damit auch gleich deren Funktion für die Gesellschaft neu erklärt. Also, »I am not your white saviour«, kapiert.
Viel stärker als die etwas überspannt konstruierten Referenzen sind die unheimlichen Bilder, die sich zu einer Spukgeschichte verdichten. Bilder vom Spital, in dem Bill Spann verendete, ein gruseliges Gebäude, das wie soviele mittlerweile verrammelt ist und leersteht, zugenagelt wie ein Sarg. Bilder vom Keller des Lebensmittelladens, vom Garten der Urgroßeltern. Beiläufigkeiten in hartem Schwarzweißkontrast. Ein Fischen im Dunkeln, das erst gar nichts zutage fördern will – und dann ist es auf einmal da: Das Schaudern aus der Kindheit. Schaudern gegenüber der seltsamen Welt der Erwachsenen, und die mysteriöse Aura, die diese verschleiert. Und es ist genial, dass Wilkerson eben diesen Aberglaube abklopft, wenn er uns gesichtslose Fenster zeigt und wir plötzlich wieder die Kinder sind, die sich vor verfluchten Häusern fürchten, Häuser, in denen Entsetzliches stattgefunden hatte. Es ist genial, denn es waren Ängste, die das Grauen in die Tat umsetzten, und dieselben Ängste sind es, die den Southern Gothic ausmachen.
Auf glücklichen Familienfotos begegnen wir derselben Banalität des Bösen, die unter der Bildoberfläche der Sammlung von Schnappschüssen einer »ganz normalen Nazifamilie« lauert, und wir müssen vermuten, dass im Jahr 1946 vielleicht ein Weltkrieg erledigt war, nicht aber eben dieses Böse. In den Ausführungen von Edward Vaughn, einem Mitstreiter von Martin Luther King, nimmt das Dorfleben jener Zeit Gestalt an. Es ist ein minutenlanges Anekdotengewitter, was der alte Mann abfeuert, und allein die Tatsache, dass Wilkerson diesen O-Ton richtig ausreden lässt, hebt den Film aus einer handelsüblichen dokumentarischen Gangart heraus. Schließlich liefern die Fakten auch so manche Erklärung. Etwa, dass der Niedergeschossene in das »schlechteste Spital« der ganzen Provinz eingeliefert wurde. Eben das Spital für Schwarze.
Travis Wilkersons Ermittlungen liefern ein unbefriedigendes Ergebnis. Zwangsläufig. Denn sie liefern die Erkenntnis darüber, dass eine Auslöschung stattgefunden hat. Alles, was von Bill Spann bleibt, ist eine Steinplatte ohne Inschrift. Von der Familie fehlt jede Spur. Bis zur Namenlosigkeit undokumentiert. Did You Know Who Fired The Gun? bleibt nichts anderes übrig, als den Erfolg rassistischer Segregation festzustellen und eine Bundesstraße entlangzufahren, mit guter Ausrüstung, bezahltem Auftrag und dem Schuldbewusstsein, aus einer Mörderfamilie zu kommen.