Dänemark 2015 · 104 min. Regie: Jeppe Rønde Drehbuch: Jeppe Rønde, Torben Bech, Peter Asmussen Kamera: Magnus Nordenhof Jønck Darsteller: Hannah Murray, Josh O'Connor, Adrian Rawlins, Patricia Potter, Steven Waddington u.a. |
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Das Treiben der Jugend |
Die erste Einstellung ist rätselhaft und faszinierend: In Slow Motion bewegt sich die Kamera vorwärts. Über eine alte stillgelegte Bahnstrecke, deren Gleise längst von Pflanzen zugewuchert sind. Sie bewegt sich auf einen Tunneleingang zu. Ein Sog wird suggeriert. Nach ein paar Sekunden wird die Kamera von einem Schäferhund überholt. Das Tier läuft in das Dunkel des Tunnels hinein.
Die Einstellung ist die Einstellung: Sie wird wiederkehren gegen Ende des Films und uns mehr
verraten. Weil wir dann mehr wissen.
Dann folgt der erste Schnitt dem Hund auf eine Waldlichtung. Morgendliches Sonnenlicht strahlt durch die winterlich kargen, tiefschwarzen Baumstämme. Der Hund schnüffelt am Boden und wittert. Windgeräusche sind zu hören. Sonst Totenstille. Wieder ein Schnitt, und die Kamera gibt den Anblick eines jungen Mannes frei, der sich in diesem Wald erhängt hat. Der Hund läuft auf ihn zu. Schnüffelt, winselt. Musik setzt ein, und dann die
Filmtitel.
Eine Autofahrt in ein Dorf hinein. Darin ein Vater und seine Tochter. »Look out for Number 42«, sagt er der Tochter Sara, die sich nicht erinnern kann. Parallel dazu ein Gottesdienst. Beerdigung: »Why have we lost another young man? Why are the Youngsters so troubled in our community?«
Vater Dave und Tochter Sara haben symbolträchtige Namen. Er ist Polizist, sie (gespielt von Hannah Murray, bekannt aus »Game of Thrones«) ein fröhliches Pferdemädchen. Sie sind gerade hergezogen aus Bristol nach Bridgend in Wales, einer tristen Waliser Kleinstadt mit oft düsterem Wolkenhimmel. Geduckte Backsteinhäuser drängen sich dort vor dunkel bewaldeten Hügeln. Der Vater soll als Ermittler herausfinden, was die Jugendlichen hier antreibt, die sich in Scharen umbringen. Eine düstere Serie kollektiver Selbstmorde unter Jugendlichen erschüttert die Gemeinde.
So deutlich und nüchtern erzählt es der Film aber nicht – obschon viele notwendige Informationen uns sehr früh und klar vermittelt werden –, vielmehr schafft er Atmosphären, in denen man sich als Zuschauer über Dinge intuitiv im Klaren wird. Etwa darüber, dass Sara natürlich genau diese Jugendlichengruppen rund um die Selbstmörder treffen wird, sich in einen von ihnen verlieben wird, und in Gefahr kommen wird. Das ahnt man von der ersten Minute an und es geschieht auch. Denn ein gewisser Fatalismus, ein Bild der Welt als zwangsläufiges Geschehen des Unvermeidlichen, bestimmt diesen Film des jungen dänischen Regisseurs Jeppe Rønde.
Denn Dorf der verlorenen Jugend, im Original Bridgend, spielt zwar in Wales, und wurde mit britischen Schauspielern gemacht, ist aber inszeniert von einem dänischen Regisseur mit mehrheitlich dänischem Geld: Rønde, geboren 1973, arbeitete als Musiker, bevor er sein Studium der Filmwissenschaften und Kunstgeschichte begann. Ein Dokumentarfilmer. Für seinen ersten Spielfilm ist Rønde sechs Jahre lang immer wieder nach Wales gefahren, wo es tatsächlich ein Dorf namens Bridgend gibt, das tatsächlich traurige Berühmtheit erlangt hat durch eine Suizidserie unter Jugendlichen. Der Film basiert auf dieser bis heute nicht abreißenden unaufgeklärten Serie. Die meisten der Jugendlichen waren im Alter von dreizehn bis siebzehn Jahren. Sie hinterließen in der Regel keinen Abschiedsbrief; nahezu alle haben sich erhängt. 79 sind es inzwischen.
Es liegt also der Verdacht nahe, es mit einem typischen Fall von Exploitationkino zu tun zu haben. Doch Rønde hat viel recherchiert und mit vielen Jugendlichen gesprochen. Der lange Zeitraum war allein schon zur Vertrauensbildung notwendig: Reporter, insbesondere der Yellow Press, seien auf der Jagd nach Zitaten in Scharen in die Stadt eingefallen, berichtete Rønde in einem Interview. Mitunter wurden sie physisch daran gehindert, zu fotografieren und Betroffene zu belästigen. Eine entsprechende Szene findet sich auch im Film.
Für sein Drehbuch, das Rønde gemeinsam mit Torben Bech und Peter Asmussen schrieb, wurden die persönlichen Erzählungen der Jugendlichen zu neuen Figuren verdichtet, allerdings nicht im Sinne des »cinéma vérité« oder anderer dokumentarischer Mischformen. Sondern als Spielfilm.
Mit großartiger Stilsicherheit gedreht wie ein investigativer Krimi auf der Suche nach dem Motiv dieser seltsamen Selbstmordserie, wird der Film mit seiner Hauptfigur Sara von Lebensfrust und Gewalt vor allem der jugendlichen Männer angesteckt, ja infiziert. Man beginnt zu verstehen, wie nah die äußere Gewaltbereitschaft dieser Jugendlichen jener anderen Gewalt ist, die sich gegen sich selbst richtet und im Selbstmord endet. Aber ist es wirklich nur Verzweiflung auf dem
Weg zum Erwachsenwerden mit düsterer Zukunft? Oder ist es eine Verschwörung, ein Protest dagegen, das Leben so ganz allein meistern zu müssen? Wollen sich die Jugendlichen im Selbstmord gemeinsam auf ewig aneinander binden? Oder ist nur dem Druck der Gruppendynamik nicht zu widerstehen, Gibt es einen unausweichliches, dunkles Verführungspotential? Ist es gar eine Art Rückkehr in den Wald, in das Wasser, zum Naturzustand?
Der Abgrund wird spürbar.
Als das erste Bild im
Laufe des Films wiederkehrt, begreift man, dass in ihm Natur und Zivilisation sich mischen, die Schienen und das Gras und der Hund. Die Schienen führten ins Schwarz, ins Nichts. Doch die Kamera fährt jetzt zurück. Aus dem Schwarz, dem Tunnel des Dickichts, brechen Jugendliche in Scharen hervor, wie ein Rudel Wölfe. Nun bricht sie hervor, die wilde Natur.
Der erste Erzählstrang hinter der Oberfläche der Handlung ist der rein visuelle. Bridgend zeigt die Tristesse des Kleinstadtlebens, lässt die Landschaft mitspielen: Viele Szenen im Wald, viele Seen, Nebel, Feuchtigkeit, Melancholie. Gedeckte Farben, Blautöne. Jedes Rot sticht heraus. Formal ist alles sehr dicht. Der Score des französischen Musikers und Elektro-Produzenten Mondkopf verbindet zusätzlich.
Der zweite Erzählstrang ist dominiert von der
Frage, was die Jugendlichen wohl antreibt? Ob etwa eine Verschwörung im Internet dahintersteckt? Alle tun so, als sei Selbstmord eine Krankheit – wie eine Erkältung, die im Internet grassiert.
Der dritte Erzählstrang ist der wichtigste: Er gilt der Kommunikationsunfähigkeit zwischen Erwachsenen und Jugendlichen eines gewissen Alters. Diese leben in ihrer eigenen Welt, und Erwachsene finden keinen Zugang zu Jugendlichen.
Der Regisseur macht sich hier die subjektive Perspektive der Jugendlichen zu eigen. Sehr deutlich thematisiert er einen Generationenbruch. Sara entfremdet sich von ihrem Vater, sie sprechen immer weniger miteinander.
Dorf der verlorenen Jugend ist in erster Linie ein gelungener Genrefilm, ein fesselnder Mystery-Thriller mit Horrorelementen, der auch deshalb verstört, weil er sehr offen bleibt (und so möglicherweise der Wahrheit Raum gibt). Die Einstellung ist die Einstellung: Jesus kommt nicht bis Bridgend. Der Goliath siegt.