USA 2022 · 126 min. · FSK: ab 12 Regie: Sam Raimi Drehbuch: Michael Waldron Kamera: John Mathieson Darsteller: Benedict Cumberbatch, Elizabeth Olsen, Chiwetel Ejiofor, Benedict Wong, Xochitl Gomez u.a. |
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Zerstörtes New York in einem alternativen Universum | ||
(Foto: Disney) |
Das Marvel Cinematic Universe (MCU) – die kommerziell erfolgreichste Filmreihe der Gegenwart – setzt sich in seiner vierten Produktionsphase und dem Anfang Mai erschienenen Film Doctor Strange in the Multiverse of Madness mit der Gesamtheit aller potenziellen Parallelwelten, kurz: dem Multiversum, auseinander. Die größtmögliche Bedrohung bilden dabei nicht mehr Schurken, Konflikte zwischen den Superheld:innen oder Aliens, sondern die Auflösung der ursprünglichen, fiktiven Erzählrealität.
Dass von einer Vielzahl unterschiedlicher (Erzähl-)Realitäten ausgegangen werden muss, wurde im Marvel Cinematic Universe erstmals im 2019 erschienenen Film Avengers: Endgame veranschaulicht. Nach der Auslöschung der Hälfte aller Lebewesen im Universum durch den Titanen Thanos reisen die Superheld:innen in der Zeit zurück, um die Infinity-Steine zuerst in die Zukunft und nach der Rückgängigmachung des Auslöschungsakts wieder an ihren angestammten Platz in der Vergangenheit zu befördern.
Das Risiko der aufgrund des Eingriffs womöglich entstehenden alternativen Zeitstränge wird im Gespräch zwischen der obersten Zauberin und dem Nuklearphysiker Bruce Banner visuell hervorgehoben, indem aus einem orange leuchtenden, verfestigten Gewinde eine zweite, dunkle Linie erwächst. Die Symbolik ist eindeutig: Die alternative Realität wäre eine düstere und ungewollte. Allerdings sind die Austreibungen – die »branches« der unterschiedlichen Realitäten – auch in eine Metaphorik des Pflanzlichen gefasst, die multilineare Beweglichkeit und beständiges Wachstum impliziert.
Zum Hauptmotiv entwickelte sich das Multiversum erst mit den Film- und Serienproduktionen ab 2020 und damit der von Marvel selbst verkündeten vierten Phase des Franchise: In der Serie Loki wurde 2021 das Ende der »Time Variance Authority« inszeniert und damit jenes Kontrollorgans, dessen Analyst:innen einzig damit beschäftigt waren, einen singulären Zeitstrahl vor allfälligen Störungen zu schützen. Eine neuerliche Repräsentation der Austreibungen des originären Zeitstrangs zeigte das Marvel’sche ‚Multiversum’ – die Gesamtheit aller möglichen Parallelwelten – nun als wuchernde Masse von nicht mehr zu kontrollierenden Auswüchsen, d.h. in einer Optik, die neuronale Netzwerke und quantenphysikalische Simulationen imitiert.
Visuell und erzähltechnisch rehabilitiert, figuriert das Multiversum allerdings nicht als neuartiger Antagonist, dem die Superheld:innen in Phase 4 entgegenzutreten hätten. Vielmehr haben sie primär mit dessen Symptomen zu kämpfen, darunter bereits besiegte Bösewichte, Variationen ihrer selbst oder aber alternativ verlaufene historische Entwicklungen. Jene Symptome laufen, so wird es in Doctor Strange in the Multiverse of Madness (2022) zumindest nahegelegt, auf eine finale Kampfhandlung zwischen unterschiedlichen Universen und deren Protagonist:innen hin. Während das Multiversum folglich alle Marvel’schen Film- und Serienproduktionen seit 2008 zu gefährden scheint (immerhin 28 Filme und 20 Serien, die bei ABC, Hulu, Netflix und zuletzt Disney+ erschienen sind), bildet es simultan den Motor für deren retrospektive Serialisierung. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, dient das als Zeitdiagnose getarnte Ringen um die eine wahre Realitätsebene so allererst einer Revision des eigenen Kanons.
Die Idee, von mehreren gleichberechtigten Realitäten auszugehen, stammt ursprünglich aus der Quantenmechanik und wird heute in der Stringtheorie und Theorie der dunklen Energie weiterverfolgt. Der amerikanische Physiker Hugh Everett III. publizierte in den 1950er Jahren erstmals über relative quantenmechanische Zustände, ausgehend von der These, dass es keine eindeutigen Messergebnisse gibt, sondern vielmehr unterschiedliche Ergebnisse in je differierenden Realitäten verwirklicht werden. Sehr vereinfacht gesagt, sind folglich alle möglichen Ergebnisse von Quantenmessungen in je einer »Welt« oder einem Universum physikalisch realisiert. Der Entwicklungsverlauf einer wiederholten Messung durch eine Beobachtungsinstanz bildet demnach keine lineare Folge von Speicherkonfigurationen, sondern eine verzweigte Entwicklung, in der alle möglichen Ergebnisse gleichzeitig als Überlagerungen im mathematischen Modell zu existieren haben:
»Each branch represents a different outcome of the measurement and the corresponding eigenstate for the object-system state«, hält Everett fest. Der Physiker Bryce S. DeWitt formuliert es so: »This universe is constantly splitting into a stupendous number of branches, all resulting from the measurement like interactions between its myriads of components.« Die many-worlds interpretation nach Everett und DeWitt bedient sich demnach von Anfang an einer arborealen Metaphorik, die bei Marvel visuell aufgerufen wird.
Die Überführung des Multiversums in eine populärkulturelle Narration stützt sich auf einer breiten literatur- und kulturgeschichtlichen Tradition von Parallelwelten, alternativen Realitäten oder Alternativweltgeschichten ab. Hier stoßen wir schon in Lewis Carrolls Through the Looking-Glass (1871) auf Zwischenwelten, unternehmen mit H. G. Wells’ The Time Machine (1895) Zeitreisen, durchwandern verlorene Welten wie in L. Frank Baums The Wonderful Wizard of Oz (1900), verfolgen mit Philip K. Dicks The Man in the High Castle (1962) alternative Geschichtsentwürfe, oder finden uns, wie in The Matrix von Lana und Lilly Wachowsky (1999), in einer Simulation wieder. Parallelwelten bilden mit einem Wort die Existenzbedingung nicht nur von Science-Fiction und Fantasy, sondern auch von Comics, Videospielen und Fan Fiction. Das Erzählen von parallelen oder alternativen Realitäten erschafft jedoch noch kein Multiversum, es suggeriert schlicht die Koexistenz von mehreren Realitätsebenen. Erst die Summe aller möglichen Paralleluniversen ergäbe (zumindest nach der quantenmechanischen Logik) ein literarisches Multiversum.
Von einer Poetik des Multiversums kann folglich nur dann gesprochen werden, wenn alle nur erdenklichen möglichen Welten – darunter auch solche mit anderen Dimensionen oder Naturgesetzen – zugleich existieren. Ein literarisches Beispiel hierfür bildet Jorge Luis Borges’ Erzählung »Der Garten der Pfade, die sich verzweigen« (1941), in dem von einem fiktiven Werk die Rede ist, das alle möglichen Optionen gleichermaßen denkbar macht. So heißt es bei Borges: »In allen Fiktionen entscheidet sich ein Mensch angesichts verschiedener Möglichkeiten für eine und eliminiert die anderen; im Werk des schier unentwirrbaren Ts’ui Pên entscheidet er sich – gleichzeitig – für alle. Er erschafft so verschiedene Zukünfte, verschiedene Zeiten, die ebenfalls auswuchern und sich verzweigen.«
Für die Entwicklung einer multiplen Erzählrealität evoziert Borges vor den Quantenphysiker:innen eine pflanzliche Eigenlogik, die jede erzähltechnische Entscheidung als Verzweigung perspektiviert. Das Erzählen des Multiversums bleibt dabei allerdings auf eine Rahmenerzählung angewiesen, in der die Binnenerzählung Ts’ui Pêns – der eigentliche (Irr-)Garten – nur als Paraphrase erscheint. Hiermit wird auf ein grundsätzliches Darstellungsproblem des absoluten Möglichkeitsraums hingewiesen, den das Multiversum im narratologischen Sinn bildet: Das Multiversum entbindet von allen Regelhaftigkeiten traditioneller Erzählformate. Möchte Marvel in Zukunft von einer einheitlichen Welt zu einer Viele-Welten-Interpretation vordringen, stellt sich folglich einerseits die Frage, wie das Multiversum repräsentiert wird, und andererseits, worin die Stabilität des Marvel-Multiversums noch gründet, wenn die Veränderung sämtlicher für Filme und Serien aufgestellten kanonischen Erzählregeln möglich wird.
Im 2016 erschienenen Film Doctor Strange wird das Multiversum nicht als Grafik abgebildet, sondern von Stephen Strange durchquert – in einer Höllenfahrt, die Makro-, Mikro- und extraterrestrische Kosmen mithilfe von Prismatik, Kaleidoskopie, Parametrismen sowie Droste-Effekten auf- und ineinanderfaltet. Jene Sichtbarmachung diente auf der intradiegetischen Ebene der Einführung der Figur von Stephen Strange und demonstrierte zudem die Potenz der psychedelisch anmutenden Animationstechniken. Simultan wurde in den zweieinhalb Minuten allerdings der für die Phase 4 maßgebliche narratologische Kniff eingeführt, der das MCU – durch den absoluten Möglichkeitsraum des Multiversums – von klassischen wie auch bereits etablierten Erzähllogiken befreit.
Primäre Suggestion dieses Kniffs ist, dass die bisherigen dem MCU zugehörigen Film- und Serienproduktionen rubriziert werden müssen – dass folglich, wie in den Marvel Comics schon länger geläufig, spezifische Welten wie Earth-616 definiert werden, um Ordnung in die unterschiedlichen Universen zu bringen. Ebenso wird suggeriert, dass die nun bestehenden Film- und Serienproduktionen akut gefährdet sind, d. h. als Teil eines auserzählten Universums zurückgelassen werden könnten. Wenn Stephen Strange in Multiverse of Madness nebst »seinem« New York und einem alternativen ökologischen New York voller Boschi Verticali auch das New York eines untergehenden Universums besucht, wird folglich angedeutet, dass im Ringen um die eine wahre Realitätsebene bald auch um das Primat der Erzählrealität gefochten werden muss. Indem Marvel die größtmögliche Bedrohung der Gegenwart im Verlust einer vereinheitlichenden Regelhaftigkeit gründen lässt, werden jene medialen Argumentationsstrategien aufgerufen, die für eine Zeitdiagnose – vor allem im US-amerikanischen Kontext – gerne politische Spaltungen, nicht zu vereinende gesellschaftliche Realitäten oder das Stichwort Atomisierung bemühen.
Marvels narratologischer Kniff besteht jedoch hauptsächlich darin, den durch die Auflösung aller Regelsysteme entstandenen Mangel mit der Verabsolutierung eigener ästhetischer Regeln zu ersetzen: So ermöglicht das Multiversum die Wieder-Holung von bereits Erzähltem, die Wiedereinführung verstorbener Figuren aus alternativen Universen, die Ein- oder Übernahme jahrzehntelang etablierter Held:innen-Rollen durch »Variants« (die allen anderen möglichen Universen zugehörigen »Kopien« der Held:innen aus dem MCU) oder aber das Spiel mit bösartigen Variationen bekannter Figuren. Die erfahrene Stabilität des Marvel-Multiversums gründet demnach in einer selbstreferentiellen, d.h. sich selbst reproduzierenden Ästhetik, die sich niemals mehr erklären muss – denn im Multiversum bleibt ja bekanntlich alles möglich. An die Stelle klassischer und etablierter Erzähllogiken rückt folglich ein neues, vom Franchise selbst bestimmtes Regelwerk, welches simultan als kommerzieller Möglichkeitsraum perspektiviert werden muss.
Das Erzählen des Multiversums ermöglicht allerdings nicht nur die Verabsolutierung einer Marvel’schen Hegemonial-Ästhetik, sondern erlaubt es zudem, grundlegende Probleme der eigenen Serialität in der Form von Kanonrevisionen erzählerisch zu lösen. So führt ein fehlgeschlagener Zauber in Spider-Man: No Way Home (2021) nicht nur zum Auftritt multipler Bösewichte aus allen bisher erschienenen Spider-Man-Filmen, sondern gar zur Zusammenführung der drei bisherigen Spider Men aus allen drei Filmgenerationen (gespielt von Tobey Maguire, Andrew Garfield und Tom Holland), deren Rechte teils Marvel (im Jahr 2009 eingekauft von Disney), teils Sony gehören. Die Trennung beziehungsweise Zusammenführung der Universen ist folglich eine rein vertragliche, die Auftrittslogiken nur als erzählte Firmenfusionen nachvollziehbar macht. Etwa, wenn Daredevil (Charlie Cox) aufgrund der ausgelaufenen zweijährigen Netflix-Auftrittssperre oder Venom (Tom Hardy), der dem Spider-Man-Universe von Sony angehört, in No Way Home erscheinen dürfen. Mit Disneys Übernahme von 21st Century Fox im Jahr 2019 ergeben sich zusätzliche mögliche Universen-Crossover und Multiverse-Cameos – man denke nur an die X-Men.
Die in Phase 4 inszenierte Bedrohung durch das Multiversum bildet deshalb in erster Linie ein Instrument von Rekanonisierungsprozessen, welche das Marvel Cinematic Multiverse als Marke reformieren. Die Erzählung des Multiversums ist derart als Prozess einer retrospektiven Serialisierung aufzufassen, die Kathleen Loock und Frank Kelleter auch als „rekursive Progression“ beschrieben haben: Was quantenphysikalisch wie animationstechnisch als Verästelungen des Multiversums in je spezifischen Gegenwarten dargestellt wird, sind im Wesentlichen Weitererzählungen von bereits abgeschlossenem und separiertem Material – etwa wenn im neusten Spider-Man-Film simultan eine Fortsetzung aller drei Spider-Man-Filmreihen hergestellt wird. Es handelt sich um einen diskursiven Wiedereingriff, der nicht nur mögliche diegetische Zukünfte mit bereits etablierten Vergangenheiten zu koordinieren hat, sondern die bereits etablierten Vergangenheiten mit dem nun eigens installierten Regelsystem – nämlich, dass alle möglichen diegetischen Zukünfte denkbar sind – selbst aktualisiert.
Die Bedrohung einer ursprünglichen Erzählrealität ist deshalb als Motor einer Serialitätspolitik zu denken, welche zweierlei Selbststabilisierungen vornimmt: Einerseits wird ein eigenes ästhetisches Regelwerk etabliert und andererseits simultan die eigene Geschichtlichkeit retrospektiv neu veredelt. Damit gestaltet sich das Marvel Cinematic Universe nur in der Theorie zum Marvel Cinematic Multiverse um, dient das suggerierte multilineare Wachstum doch der Herstellung einer invertierten Linearisierung, die in erster Linie auf Selbsterhalt abzielt. Das Marvel Cinematic Multiverse bildet damit den Höhepunkt eines seriellen Selbstbewusstseins, welches Plot, Franchise und Ästhetik nurmehr autoreferenziell verknüpft. Das erzählte Multiversum konstituiert folglich ein Serialisierungsinstrument sondergleichen, welches im Borges’schen Irrgarten paralleler Welten und Zukünfte eine Parabel auf den Kapitalismus zu verbergen sucht.
Vera Thomann ist Doktorandin am Deutschen Seminar der Universität Zürich und forscht zu literarischen Experimentalsystemen und Mensch-Tier-Relationen in der Gegenwartsliteratur.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Geschichte der Gegenwart, wo Vera Thomanns Text am 8. Mai 2022 zuerst erschienen ist.