Deutschland 2015 · 104 min. · FSK: ab 12 Regie: Miriam Jakobs, Gerhard Schick Drehbuch: Miriam Jakobs, Gerhard Schick Kamera: Simon Guy Fässler, Philipp Künzli Schnitt: Miriam Jakobs, Gerhard Schick |
||
Gen statt Gericht |
In seinem Buch „Das schöpferische Universum“ berichtet der britische Biochemiker Rupert Sheldrake davon, dass die Erwartungshaltung von Wissenschaftlern oft die Ergebnisse ihrer Experimente beeinflusst, die doch vollkommen objektiv sein sollten. Diese Forscher haben eine so feste Vorstellung davon, wie das Ergebnis ihrer Forschung auszusehen hat, dass dem widersprechende Daten gerne als „Messfehler“ ausgeblendet werden.
Auch Frank Schauder ist als Arzt ein Mann der Wissenschaft, den der Gedanke fasziniert, dass alle Gefühlsregungen eine materielle Basis besitzen. Als einer von vier Millionen Deutschen, die an ernsthaften Depressionen leiden, ist Frank zugleich auch Patient. Er ist sich sicher, dass seine Krankheit genetische Ursachen hat. Die Dokumentarfilmer Miriam Jacobs und Gerhard Schick begleiten Frank auf seiner Suche nach „dem dunklen Gen“.
Zu Beginn des Films schildert Frank Schauder eindringlich, wie ihn die Depression, sobald er einen neuen Schub hat, immer tiefer sinken lässt, wie in einer Wanne, deren Ränder plötzlich so glitschig werden, dass er sich nicht mehr festhalten kann. Während er immer tiefer sinkt, gleitet er zugleich immer mehr in der Zeit zurück und landet schließlich bei Dingen aus seiner frühen Kindheit, die „wenn sie wieder hochkommen“ seine Gegenwart zu zerstören drohen. Diese eindringlichen Schilderungen werden in Das dunkle Gen leider von seltsamen schwarzweißen Computeranimationen begleitet, die so wirken, als würden sie aus den frühen neunziger Jahren stammen.
Frank macht in seinem Denken einen Sprung. Von einem Moment auf den anderen geht es ihm nur noch darum, dem dunklen Depressions-Gen auf die Spur zu kommen. In „allen“ Generationen seiner Familie gab es depressive Erkrankungen mit Todesfolge. Frank fürchtet diese erbliche Belastung an seinen 16-jährigen Sohn Leonard weitergegeben zu haben. Das ab jetzt Folgende wirkt eher wie der hartnäckige Versuch diese These unbedingt zu bestätigen – vielleicht um etwas zu haben, an dem man sich festhalten kann – als eine ergebnisoffene Suche nach der Wahrheit.
Die Erforschung unseres Gehirns und unseres Bewusstseins ist die große wissenschaftliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Dabei ist bis heute noch vollkommen ungeklärt, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Während viele Forscher nach wie vor davon ausgehen, dass der Mensch nur eine Maschine mit einem besonders gut funktionierenden Computer im Kopf ist, halten Philosophen wie Thomas Nagel diese materialistisch-reduktionistische Betrachtungsweise für reichlich naiv.
Frank Schauder gehört eher der ersten Gruppe an. Alles was seiner These, dass seine Krankheit rein genetisch bedingt ist, widerspricht, wird im Zweifelsfalle einfach ignoriert. So lässt er eine Speichelprobe von einem Labor in Kalifornien auf mögliche erbliche Belastungen hin untersuchen. Als die Auswertung ergibt, dass seine genetische Disposition für eine depressive Erkrankung nur verschwindend gering ist, stellt er irritiert fest, dass man „hier anscheinend noch nicht so weit“ sei.
Genau genommen bezieht sich dieses Ergebnis auch nicht auf eine erbliche Veranlagung zu Depressionen, sondern zu bipolaren Gefühlsstörungen, sprich zu manisch-depressiven Erkrankungen. Doch über solche nicht unwesentlichen Unterscheidungen wischt der Protagonist von Das dunkle Gen einfach hinweg. Entsprechend dürftig fallen die Ergebnisse seiner Untersuchungen aus. Frank Schauder reist nach Bern, nach Barcelona und in die USA, um seine Krankheit besser zu verstehen. Aber all dies wirkt eher, wie ein einziger gewaltiger Irrweg, als wie eine Annäherung an eine vertiefte Erkenntnis.
So trifft sich Frank mit der amerikanischen Komponistin Deirdre Gribbin. Deren neuestes Projekt heißt „Hearing Your Genes Evolve“. Bei diesem übersetzt die Musikerin die Abkürzungen der Basenfolge der DNA eins zu eins in Musiknoten. Adenin wird zur Note A, Thymin zur Note ... – ja welche überhaupt? – Guanin zu G und Cytosin zu C. Das hört sich interessanter an, als es später tatsächlich klingt. Zudem ist der Erkenntniswert gleich null.
Anstatt tief in sich hineinzugucken, um mögliche Ursachen seiner Erkrankung zu finden, beschreibt Frank zwar sehr genau deren Symptome, sucht ansonsten jedoch nach einer Erklärung, die außerhalb seines Zugriffs und seiner Einflussnahme liegt. Deshalb fragt der Betrachter sich im Verlaufe der Dokumentation irgendwann unweigerlich, ob diese Art der Suche nicht selbst ein Ausdruck von Franks Depression ist.
In Franz Kafkas Werken, wie etwa „Der Prozess“, entstehen existenzielles Unbehagen und Verzweiflung aus dem Gefühl heraus, dem willkürlichen Walten unbeeinflussbarer Kräfte auf Gedeih und Verderben ausgesetzt zu sein. Das dunkle Gen erweckt den Eindruck, dass Frank im Vergleich zu Franz nur das Gericht durch die Gene ausgetauscht hat.