Island 2016 · 104 min. · FSK: ab 16 Regie: Baltasar Kormákur Drehbuch: Ólafur Egilsson, Baltasar Kormákur Kamera: Óttar Guðnason Darsteller: Baltasar Kormákur, Hera Hilmar, Gísli Örn Garðarsson, Ingvar Eggert Sigurðsson, Joi Johannsson u.a. |
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Grimmig und moralisch ambivalent |
Eine klagende Tonspur kündet schon im Vorspann kommendes Unheil an. Und auch der Eröffnungstext, der in einer Abwandlung des Hippokratischen Eides an die Verantwortung eines Arztes erinnert, lässt nichts Gutes erahnen. „Vor allem darf ich nicht Gott spielen“, ist unter anderem dort zu lesen. Eine Mahnung, die der anerkannte Herzchirurg Finnur (Baltasar Kormákur) schon bald aus den Augen verliert. Eingeführt wird der Mediziner als Perfektionist, dem keine berufliche Herausforderung zu heikel ist. Und als Mann, der auch abseits des Krankenhauses Grenzen austestet. Wie ein Besessener tritt der passionierte Triathlet in die Pedalen seines Rennrads und kämpft darum, neue Rekorde zu erstrampeln. Zu Hause – einem edlen Flachdachbau aus Beton, Holz und Glas – präsentiert er sich als verständnisvoller Familienvater, der nach Meinung seiner zweiten Ehefrau (Margrét Bjarnadóttir) ruhig etwas strenger mit seiner großen Tochter Anna (Hera Hilmar) sein könnte. Als die 18-Jährige, die offenkundig die Trennung ihrer Eltern noch nicht verwunden hat, mit dem zwielichtigen Dealer Óttar (Gísli Örn Garðarsson) zusammenzieht und immer häufiger zu Drogen greift, sieht sich Finnur genötigt, die Beziehung zu beenden. Notfalls mit drastischen Methoden.
Nach dem spektakulär bebilderten Katastrophen-Blockbuster Everest widmet sich der in Island geborene Filmemacher Kormákur einer intimen Thriller-Geschichte, die er in seiner nasskalten Heimat ansiedelt. Statt großer Effekte steht das Dilemma eines Mannes im Mittelpunkt, dem im Bestreben, seine Tochter zu retten, die Moral abhanden kommt. „Ein Mann sieht rot“ mit angezogener Handbremse. Ohne allzu übertriebene Eskapaden, die ähnlich gelagerte Produktionen oftmals zu stumpfen Gewaltpornos machen. Denis Villeneuves unbequemes Hollywood-Debüt Prisoners kommt einem als Vergleichswerk in den Sinn, da auch Der Eid das Handeln des Protagonisten problematisiert und den Zuschauer in eine intensiv-bedrückende Atmosphäre hüllt. Ausgeblichene Bilder des winterlichen Reykjavík schaffen ein unterkühltes Klima, das durch die in vielen Szenen vorherrschende Dunkelheit noch unbehaglicher erscheint. Immer mal wieder entfernt sich der Film für kurze Zeit von seiner Hauptfigur, um die raue und zerklüftete Landschaft der Atlantikinsel in den Blick zu nehmen. Das Ergebnis sind majestätische Impressionen, in denen der auf seinem Rennrad voranpreschende Finnur wie ein kleines, hilfloses Geschöpf erscheint.
Während das Drehbuch, an dem Kormákur ebenfalls beteiligt war, ohne große Eile eine Gewaltspirale lostritt und dabei einige dramaturgische Holprigkeiten in Kauf nimmt, ragen besonders die Momente heraus, die an der Zivilisiertheit des renommierten Mediziners kratzen. Sein Vorgehen ist unentschuldbar und mitunter schmerzlich zielstrebig. Etwa dann, wenn er seine Fachkenntnisse für eine qualvolle Prozedur benutzt, die er überdies erschreckend nüchtern erläutert. Gleichzeitig blitzt aber auch seine Menschlichkeit auf. Seine Verunsicherung und sein Hadern mit einer Situation, deren Kontrolle ihm mehr und mehr entgleitet. Als böses Omen erweisen sich rückblickend die Hinweise auf Finnurs kürzlich verstorbenen Vater, der zwischen den Zeilen als kaltherziger, wahrscheinlich gewalttätiger Mann beschrieben wird. Merkmale, die der eigentlich gesittete Herzchirurg auf einmal für sich entdeckt. Das, was er angeblich verabscheut, ist ihm plötzlich recht und billig.
Kormákur, der die Getriebenheit des Arztes glaubhaft transportiert, legt mit Der Eid ein solides, konsequent grimmiges und moralisch ambivalentes Thriller-Drama vor, hätte dem Ganzen aber noch mehr Wucht und Dringlichkeit verleihen können, wenn die Nebenfiguren etwas komplexer geraten wären. Der unangepassten Anna schenkt der Film zwar einige eindringliche Augenblicke. Insgesamt bleibt die 18-Jährige aber in erster Linie ein Funktionscharakter, der den Abwärtsstrudel des Protagonisten auslöst. Und auch die zweite Frau des Arztes hätte ein stärkeres Profil verdient gehabt, zumal sie irgendwann erkennt, dass sich ihr Mann in große Schwierigkeiten manövriert hat. Eine Reaktion auf diese erschütternde Entdeckung wird ihr jedoch größtenteils verwehrt.