Deutschland 2002 · 83 min. · FSK: ab 12 Regie: Kai S. Piek Drehbuch: Kai S. Piek Kamera: Egon Werdin Darsteller: Tobias Schenke, Sebastian Urzendowsky, Ulrike Bliefert, Walter Gontermann u.a. |
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Kindlicher Killer: Jürgen Bartsch (Tobias Schenke) |
Darf man einen Mörder seine Geschichte selbst erzählen lassen? Ohne Zwischenfragen und die Gelegenheit, seine Darstellung zu korrigieren? Darf man ihm ermöglichen, seine Verbrechen ganz subjektiv zu berichten und gar zu entschuldigen? Kai S. Piek lässt Jürgen Bartsch reden, einen Mann, der mit 14 Jahren seinen ersten Mord begangen hat und mit 19 überführt wurde. Und was er sagt, ist alles andere als eine Verharmlosung oder Leugnung seiner Verbrechen.
Ende der 60er Jahre ging es durch alle Medien: Die »Bestie von Langenberg« hatte halbwüchsige Jungen entführt, missbraucht, gequält und getötet. Die reißerische Berichterstattung traumatisierte die Nation, und verängstigte Eltern wagten nicht mehr, ihre Kinder unbeaufsichtigt auf die Straße zu lassen. In einem ersten Prozess 1967 wurde Bartsch zu fünfmal lebenslänglich verurteilt, Verfahrensmängel führten 1971 zu einer Revision, deren Urteil auf 10 Jahre Jugendstrafe und anschließende Verwahrung in der Psychiatrie lautete.
Jürgen Bartsch ist ein einmaliger Fall in der deutschen Kriminologie, nicht nur wegen der seltenen Alterskonstellation von Täter und Opfern, sondern weil er sich ungewöhnlich reflektiert zu seinen Verbrechen geäußert hat. Seine Korrespondenz mit dem amerikanischen Journalisten Paul Moor diente Piek als Quelle für sein Drehbuch, eine Collage aus wörtlichen Zitaten Jürgen Bartschs.
Romuald Karmakar hat es vorgemacht, in seinem Film Der Totmacher stellte er minutiös ein Verhör des Kindermörders Haarmann nach. In dem kongenialen Kammerstück zwischen Mörder, psychiatrischem Gutachter und Protokollant erschließen sich die Verbrechen aus den Fragen des Psychiaters. In der Rolle des sich selbst rechtfertigenden Haarmann spielte Götz George überaus differenziert den Getriebenen, der seine Taten verharmlost.
Pieks Film,
ebenfalls über einen Massenmörder, erinnert zwangsläufig an den Karmakars, doch statt eines Dialogs mit dem kritischen Psychiater sieht der Zuschauer sich einem Monolog gegenüber und muss nun selbst in die Rolle des Hinterfragenden schlüpfen. Der erwachsenen Jürgen Bartsch (Tobias Schenke), der in einer fiktiven Therapesitzung über sein Leben spricht, weiß um seine Schuld. Erschrecken und Mitleid über seine Taten mischen sich mit der wohligen Erinnerung an die ausgelebten
Phantasien. Das Versagen der Gesellschaft, die diese Eskalation nicht aufzuhalten vermochte, scheint ihm dagegen nicht bewusst zu sein, wenn er erzählt, dass sein Eltern, Freunde, ein Priester und sogar das Jugendamt die Augen verschlossen haben vor jedem Hinweis auf die brutalen Entgleisungen des überangepassten Jungen.
Illustriert sind die trocken inszenierten Videobilder der Therapiesitzung mit Spielszenen aus der Jugend von Bartsch, verkörpert von Sebastian Urzendowsky. Stärker noch als die in die Kamera gerichteten Worte des Erwachsenen und die in kindlicher Schreibschrift gehaltenen Originalzitate vermitteln diese Szenen den Schrecken einer lieblosen Kindheit, der Missbrauchsgeschichte im Kinderheim und gleichzeitig die furchtbaren Verbrechen, die der Halbwüchsige begangen hat. Nicht alles wird bis ins Detail verfolgt: der neurotische Sauberkeitswahn der Adoptivmutter wird ebenso reduziert wiedergegeben wie die tatsächliche Ausführung der unfassbaren Morde.
Kai S. Piek hütet sich davor, einfache Erklärungen anzubieten. Auch für ihn ist Bartsch nicht durchschaubar. Da fand keine zwangsläufige Entwicklung statt: Die deutsche Nachkriegsgesellschaft ist voll von Schicksalen ungeliebter, misshandelter und missbrauchter Kinder, die nicht zu Mördern wurden. Und doch scheint es, als hätte ein wenig mehr Aufmerksamkeit zur rechten Zeit das Schlimmste verhindern können.
Sebastian Urzendowsky, der als jugendlicher Bartsch in vielfältigen Spielszenen interagieren kann, überzeugt in seiner erschreckenden Harmlosigkeit. Tobias Schenke in der kargen Videobeichte ist ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Auch er meistert seinen Part, abgesehen von wenigen Manierismen, die er scheinbar George als Totmacher abgeschaut hat. Egon Werdins Kamera hat seinen Monolog in spröden schwarz-weiß-Szenen ebenso eindringlich umgesetzt wie die Rückblenden in den gedämpften Farben von Bartschs muffigem Umfeld. Für die gelungene Kombination dieser so unterschiedlichen Teile erhielt Ingo Ehrlicher 2003 den deutschen Kamerapreis für den Schnitt.