Deutschland/B 2018 · 89 min. · FSK: ab 12 Regie: Ziska Riemann Drehbuch: Dagmar Gabler, Luci van Org, Angela Christlieb, Ziska Riemann Kamera: Hannes Hubach, Andrés Lizana Prado Darsteller: Victoria Schulz, Björn von der Wellen, Hans-Jochen Wagner, India Antony, Anna Amalie Blomeyer u.a. |
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Zwischen Wahn und Realität |
In Ziska Riemanns Electric Girl spielt Victoria Schulz die Poetry-Slammerin Mia. Diese erhält die Chance, die Anime-Heldin Kimiko zu synchronisieren. Je länger Mia diesen neuen Job ausübt, desto stärker identifiziert sie sich mit der japanischen Weltenretterin. Bei ihrem Nebenjob als Barfrau ahmt Mia Kimikos Bewegungen nach und auf einer Party springt Mia wie Kimiko von einem Dach. Irgendwann meint Mias verspulter Nachbar Kristof (Hans-Jochen Wagner) dass Mia krank sei. Doch wie kam es dazu?
Mia ist ähnlich hyperaktiv wie die zu Vanilla mutierte Maggie in Tiger Girl. Doch selbst in ihren wildesten Ausbrüchen wirkt Mia immer ein Stück weit wie auf Valium. Selbst wenn sie wild herumwirbelt, erscheint sie wie auf Watte zu wandeln. Das hat zum einen sicherlich mit ihrer Identifikation mit der Anime-Figur Kimiko zu tun. Auch diese bewegt sich schnell, aber dabei äußerst geschmeidig. Es zeigt aber auch, wie Mia immer stärker von der Realität entrückt, wie sie immer mehr in den Wahn abgleitet.
Beide Bewegungen treffen zusammen, als Mia hinter dem Bartresen in die Rolle von Kimiko schlüpft. Voller Energie streckt sie ihre Arme aus, bis sie eine Heldenpose einnimmt. Doch anstatt übersteigert herumzufuchteln, führt Mia sanft gleitende Bewegungen aus, die sich exakt mit denen von Kimiko in ihren Animeabenteuern deckt. Diese flüssigen Bewegungen sind ein Ausdruck von Kimikos Kontrolle und Kraft. Immerhin kann KImiko die Elektrizität kontrollieren. Zugleich spiegeln Mias sanft gleitende Bewegungen jedoch auch ihr allmähliches Abgleiten in die Manie.
Es ist erstaunlich, dass man bei Electric Girl keinen exakten Zeitpunkt ausmachen kann, an dem Mias selbstbewusstes Agieren in die Psychose kippt. Eben war sie noch cool, dann ist sie auch schon krank. Aber wann das eine aufhört und das andere anfängt, lässt sich nicht wirklich sagen. Mia dreht auf und dann dreht sie durch. Mia hat die komplette Kontrolle und Mia ist komplett durchgeknallt.
Dass der Zeitpunkt, an dem Mia den Kontakt zur Realität verliert, nicht klar auszumachen ist, liegt auch daran, dass Mia von Anfang an leicht entrückt ist. Die Stimmung in Electric Girl hat zu Beginn nichts Elektrifiziertes. Mia wirkt ein Stück weit wie das Kiemenwesen in Guillermo del Toros Shape of Water – Das Flüstern des Wassers – sie scheint wie unter Wasser zu schweben. Es beginnt mit der Weltentrücktheit ihrer Arbeit im Synchronisationsstudio. Hier verschwindet Mia in Kimikos Comicwelt. Und zum Ausgleich geht sie auf Partys, auf denen die Menschen anderweitig der Welt entrücken.
Das Scharnier zwischen der Comicwelt und der Partywelt bildet Mias Wohnung. Obwohl diese ziemlich gewöhnlich ist, verwandelt Mia auch sie in einen Rückzugsort von der Realität. Kaum ist sie zu Hause angekommen, blendet sie die Außenwelt aus, indem sie die Vorhänge zuzieht. Diese schützen vor der Sonne und vor zu viel Realität. Doch die Realität dringt sehr eklig in Mias Leben in Form einer toten Ratte ein. Wie gut, dass man sich vor der Realität ins Internet flüchten kann. Pech nur, wenn einen auch dort die fiese Realität in Gestalt von Mias todkrankem Vater per E-Mail einholt.
Vielleicht ist die ausweglose Situation ihres Vaters der Knackpunkt, der Mias Allmachtsfantasien triggert. Wenn sie schon den Vater nicht retten kann, dann will Mia wenigstens eben schnell noch einmal die Welt retten. Spätestens auf der Geburtstagsparty ihres Vaters ist auch klar, dass Mia nicht mehr cool, sondern nur noch fürchterlich nervig ist. Selbstverständlich sieht Mia das jedoch völlig anders.
In dem Presseheft zum Film verweist die Regisseurin und Co-Autorin Ziska Riemann auf die Auffassung, dass die Manie „die schönste Krankheit der Welt“ sei. Ebenso zitiert sie eine Aussage aus der Dokumentation Stephen Fry: The Secret Life Of The Maniac Depressive. In dieser Doku fragt Stephen Fry seine Protagonisten: »Wenn jetzt hier vor dir ein Gerät stünde mit einem Knopf, um die Krankheit ein für alle Mal loszuwerden, würdest du drauf drücken?« Er erntet nur ein kräftiges Kopfschütteln.
Electric Girl zeigt jedoch, dass der manische Rausch auch seine starken Schattenseiten hat. Zwar versinkt Mia am Ende nicht so wie viele andere Manische in abgrundtiefen Depressionen. Dafür versinkt sie im Wasser. Was könnte Passender sein? Schließlich erschien sie bereits von Anfang an, wie eine unter Wasser Wandelnde.
Eine junge Frau sitzt auf einem Baum. Ihre blauen Haare wehen im Wind, ihr leuchtend gelber Mantel hebt sich gegen den Abendhimmel ab. Sie blickt auf die Silhouette der Hochhausfelder, hinter der eine riesige rote Sonne fett herabhängt. Aus dem Off hören wir ihren inneren Monolog: »An einem schönen Sommerabend hab ich die Zukunft meiner Stadt gesehen, die im Begriff war zu sterben...« Es ist die Superheldin Kimiko, sie kämpft gegen zerstörerische Dämonen, die mittels Magnetfelder die Welt der Menschen unterdrücken wollen. Und Mia darf ihr jetzt außerordentlich nahe kommen. Die junge Frau verdient in Hamburg ihr Geld zwar nebenbei als Bedienung in einer Bar. Vor allem aber versucht sie, als Film-Synchronsprecherin Fuß zu fassen. Die Rolle der Hauptfigur Kimoko in einer japanischen Comic-Serie ist für sie die große Chance. Und zunächst scheint auch alles gut zu laufen.
Von Anfang an zeigt Regisseurin Ziska Riemann nicht nur das Leben von Mia, sondern auch, was sie bei der Arbeit sieht, hört und spielen soll, also das Leben der unbesiegbaren Superheldin Kimiko.
Diese Parallelen werden schnell immer enger gezogen und schon bald versteht man, dass die junge Frau, die anfänglich einfach ihre Arbeit sehr ernst genommen hat, beginnt, sich mit der Anime-Figur zu identifizieren. Dazu gehört nicht nur, dass sie offenbar ernsthaft der Meinung ist, sie könne die Welt retten, sondern auch, dass Mia irgendwann eine regelrechte Paranoia entwickelt: Mehr und mehr verändert sich die Persönlichkeit von Mia, die von Anfang schon mit recht gespannten Nerven in ihrer eigenen sehr bunten, sehr unaufgeräumten Welt zu leben scheint, zu der nur ihr lethargischer Nachbar einen Gegenpol bildet.
Vielleicht begann alles eigentlich mit dem Stromschlag, den Mia eines Tages beim Bar-Aufräumen bekam. Vielleicht wurde sie da zum Cyborg, infiziert von der Technik. Mia driftet weg aus der Realität. Sie wird stark, unschlagbar, steckt ihre Mitmenschen mit ihrer Hyperaktivität an, nervt sie aber ebenso, und entwickelt auch mehr und mehr selbstgefährdende Züge. Einmal steht sie an einer Brüstung, balanciert über hoher Tiefe – und wir rätseln, ob sie weiß, was sie tut.
Gründe für all das bietet der Film genug an, und es liegt auch ein bisschen im Auge des Betrachters, ob man die realistischere Variante oder die Phantastik vorzieht.
Vielleicht ist Mia ja wirklich eine Superheldin und Electric Girl ein surrealer Fantasy-Film. Man kann aber auch vermuten, dass Mia eigentlich eine Tagträumerin ist, die sich in ihrer Comic-Lektüre verliert, von der sie zuviel konsumiert, um der Durchschnittlichkeit ihres Daseins zu
entfliehen. Wie in Lollipop Monster, dem Debüt der Regisseurin, erzählt sie auch diesmal von einem »Riotgirrl«: Jung, hübsch, provozierend und eigenwillig, aber auch ziemlich verloren im Hier und Jetzt, und viel verwundbarer, als sie erscheinen möchten, lebt sie in einer bunten Welt, die sie sich à la Pippi Langstrumpf zurechtlegen, »widewidewie« es ihr gefällt.
Sie ist eine Figur, die ihre
Umwelt nervt und provoziert. So wird es auch dem Publikum gehen: Die eine Hälfte wird genervt sein und den Film nicht aushalten, die bessere Hälfte wird mitgerissen werden: Agitiert im besten Sinn von diesem Superheld gewordenen menschlichen Störfaktor. So trennt der Film die Spreu vom Weizen, die Besserwisser des Publikums, die die Welt retten wollen, um sie so zu erhalten wie sie ist, die also konservativ sind und unfähig zum Utopismus, werden getrennt von den Parteigängern der
schöpferischen Zerstörung, den Futuristen, die die Welt retten wollen, um sie zu verändern und vor sich selbst zu beschützen.
Sozial-Realistisch wäre es zu sagen: Mia ist psychisch krank, manisch-depressiv und hat Wahnvorstellungen. Das sagen die Braven, die danach gleich die Herren in den weißen Kitteln holen, um ja nur ihre Ruhe zu haben.
Jedenfalls geht es auch um Verdrängung in diesem Film, denn ganz bestimmt ist Mias Beziehung zu ihrer sehr bürgerlichen Familie die eigentliche Achillesferse im Leben dieser Frau. Schon früh werden die Signale gesetzt, so bestimmt wie unaufdringlich steht im Raum, dass gerade in der Beziehung zu ihrem Vater etwas ganz und gar nicht im Lot ist.
Die Szene von Mias Besuch bei den Eltern ist die abgründigste des ganzen Films.
So mischt Electric Girl jederzeit Action mit Nachdenklichkeit, zeigt überaus ungewöhnliche Bilder und einen originellen Look, dessen Reiz nicht zuletzt auch in der Mischung aus naturalistischen Bildern und furiosen Animationssequenzen liegt.
Weil wir ehrlich sein wollen müssen wir hier hinzufügen, dass der Film bei all dem Lob auch noch eine Menge Luft nach oben hat. Dass er längst nicht alle Möglichkeiten nutzt, die er selbst angelegt hat, er manche von ihnen regelrecht verschenkt, so als wüsste er selbst nicht, was er ist, und das er sein Potential nicht erkennt: In den Animationssequenzen, von denen es viel viel mehr geben müsste; in dem Moment des Besuchs bei den Eltern, wo wir auf einmal für fünf Minuten in einem
bürgerlichen Salon der Peinlichkeiten landen, wie man ihn sonst im deutschen Kino nur von Oskar Roehler kennt (was die Spießer dann verwechseln und glauben, die Regisseure seien peinlich, und nicht, was sie zeigen) und schließlich in der Erzählung vom Stromschlag. Hier legt Riemann noch eine weitere Ebene in den Untergrund ihres Films, die später leider nie wieder aufscheint.
So ist Electric Girl ein doppeltes Plädoyer: Für die Fähigkeiten seiner Macher
wie für die deutschen Kinos, wenn es nur mehr seinem Unterbewusstsein vertrauen würde, wenn es nur die Kraft hätte zur ästhetischen Deregulierung.
Regisseurin Ziska Riemann hatte bisher schon als Comic-Zeichnerin und Autorin Erfolg. In ihrem Regie-Debüt Lollipop Monster zeigte die 1973 geborene Künstlerin, dass sie auch als Regisseurin eine ganz eigene Handschrift besitzt, und bekannte sich offen zur Künstlichkeit der Darstellung. In der verbinden sich Lust am Eskapismus wie eine herausfordernde, weltverändernde Phantasie. Weitere Pluspunkte dieses ungewöhnlichen Films sind die Kamera von Hannes Hubach und die Musik. Vor allem aber die Hauptdarstellerin Victoria Schulz, die sich mit hundertprozentiger Energie in ihre Rolle hineinwirft, so als sei sie selbst elektrifiziert.
Ein wilder Film!