Deutschland 2016-18 · 117 min. · FSK: ab 12 Regie: Ralf Bücheler, Jörg Adolph Drehbuch: Jörg Adolph, Ralf Bücheler Kamera: Daniel Schönauer Schnitt: Anja Pohl |
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Die Grenzen der Freiheit |
»Es gibt kein problematisches Kind, es gibt nur problematische Eltern.« — Alexander Sutherland Neill in »Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung«
Eigentlich reicht ein Elternabend im September 2018 an einer Münchner Grundschule, um ein gutes Gefühl für die Überforderung und Verzweiflung des Lehrpersonals zu bekommen. Da bittet die Lehrerin die Eltern vorsichtig, doch bitte ein wenig die Hausaufgabenmoral der Kinder zu stärken, doch sofort meldet sich wütend ein Vater, um sich lautstark zu beschweren, was das denn jetzt soll? Soll jetzt im Elternhaus der eh unerträgliche Druck der Schule noch einmal potenziert werden? Das sehe er gar nicht ein, das sei Aufgabe der Schule. Nicht anders sieht es in den Kindergärten aus. Grenzen sollen nicht mehr selbstverständlich durch das Elternhaus vermittelt werden, sondern institutionell über Kindergärten und Schulen. Im Grunde ist das in einer Zeit, in der Kinder für Eltern eher Freunde und Lebensprojekt statt nun ja – Kinder – sein sollen, nicht verwunderlich. Denn jede Grenzziehung birgt die Gefahr, einen Freund oder einen Lebenstraum zu verlieren.
Noch ist nicht klar, wohin uns diese Pädagogik gesellschaftlich schwemmen wird – in einen Hort des ewigen Friedens oder ins dystopische Nirwana –, aber die Spitze des Eisberges dieser Entwicklung lässt sich sehr gut an Jörg Adolphs und Ralf Büchelers erstmals auf dem DOK.fest München 2018 gezeigter dokumentarischen Erkundung Elternschule betrachten.
Adolph und Bücheler haben Familien begleitet, die nicht mehr weiterwissen. Es sind Eltern, die weder sozial verwahrlost sind noch ihren Nachwuchs verwahrlosen lassen. Sie wollen wie fast alle Eltern nur das Beste für ihr Kind. Doch ihre Kinder leiden durch fehlende pädagogische Intervention an pathologischen Defekten: ein Kind mag nur mehr Wurstzipfel zu sich nehmen, ein anderes isst außer Chicken McNuggets und Pommes nichts anderes mehr; ein Junge kratzt sich blutig und braucht zum Einschlafen ausdauernde Fussmassagen, und dann gibt es das Kleinkind, das nur noch schreit.
Im Kleinen kennen wohl die meisten Eltern derartige Symptome, Spinnereien und Absonderlichkeiten und wissen, wie schwer es schon im Kleinen ist, neu zu justieren. Im Großen ist es fast unmöglich, stehen die hier gezeigten Eltern am Ende ihrer Geduld und wissen sich nur noch durch eins zu helfen: eine mehrwöchige stationäre Therapie in der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen, Abteilung Pädiatrische Psychosomatik. Hier können sich – deutschlandweit einzigartig – Eltern mit ihren Kindern einweisen lassen, wenn sie komplett erschöpft und verunsichert sind und nicht mehr weiterwissen. Hier durchlaufen dann Kinder und Eltern eine Art Neustart ihres pädagogischen Programms, samt Schlaftraining, Esstraining, Verhaltenstraining und Psychotherapie.
Adolphs und Büchelers Kamera folgt Kindern und Müttern respektvoll, aber immer wieder auch schonungslos. Wie auch in anderen Filmen Adolphs (Kanalschwimmer, Die große Passion) wird auf Off-Kommentare verzichtet und damit auch eine naheliegende Wertung der Verhältnisse auf ein Minimum reduziert. Die Geschichte erzählt sich von allein, es entstehen immer wieder aufregende Kontraste durch Gegenschnitte von Teambesprechungen der Ärzte, den eigentlichen Coachings mit den Kindern und den Elterngesprächen. Im Zentrum steht dabei der Psychologe Dietmar Langer, der das »Eltern-Kind-Therapieprogramm« vor über 20 Jahren initiiert hat und mit seinem umwerfenden Charisma sowohl das ruhende als auch das dramatische Zentrum in Adolphs und Büchelers Film bildet.
Ein Film, der wichtiger nicht sein könnte, zeigt er doch sowohl die Notwendigkeit, Eltern wieder in den pädagogischen Diskurs mit einzubeziehen, als auch, wie gefährlich die (pädagogischen) Freiheiten unserer Gesellschaft im Grunde sind.
PS: Wie gefährdet diese Dialoganregung allerdings ist, zeigen die schon im Vorfeld zum Kinostart geführten Kontroversen um Elternschule. Nach einer Kritik an dem Film in einem kostenlosen Werbeblatt für Eltern in Köln – Känguru, in dem zu lesen war, dass in dem Film unter Zwang gefüttert werde und der Film eher ein Horror- als ein Dokumentarfilm sei, hat sich die gut vernetzte Attachment Parenting-Bewegung eingeschaltet und ihre Anhänger mobilisiert. Die umfassende Empörung entwickelte sich zu einem ausufernden Shit-Storm mit der gegenwärtig üblichen Aggressivität: in dem Film würden Kinder gequält, schwarze Pädagogik und NS-Methoden porträtiert, die Macher müssten bestraft werden oder zumindest selbst in Dr. Langers Folterklinik. Diese nicht mehr zu moderierende Entwicklung führte schließlich dazu, dass die Facebook-Seite zum Film offline genommen werden musste. Doch damit nicht genug, werden inzwischen auch Kinos angeschrieben, um den Film sofort absetzen zu lassen, werden Beschwerden beim Kinderschutzbund eingereicht und eine Online-Petition, die u.a. vom Model, GNTM-Kandidatin (2012) und der zweifachen Mutter Sara Kulka unterstützt wird, fordert die sofortige Absetzung des Films.