Island 2000 · 102 min. · FSK: ab 12 Regie: Friðrik Þór Friðriksson Drehbuch: Einar Guðmundsson Kamera: Harald Gunnar Paalgard Darsteller: Ingvar Eggert Sigurðsson, Baltasar Kormákur, Björn Jörundur Friðbjörnsson, Hilmir Snær Guðnason u.a. |
Island. Die Isländer haben einen Hang zur Schizophrenie. Im Grunde ist jeder Isländer schizophren, da er an die Sagen und Märchen glaubt, so das Diktum des Arztes in der Irrenanstalt. Die echte Schizophrenie bedeutet in Island folglich nur eine Steigerung des normalen Zustandes, den jeder in sich trägt.
Island. Irgendwann ist Island der NATO beigetreten. Das war der Tag, an dem Páll geboren wurde. Seine Mutter träumte in dieser Nacht von vier Pferden.
Vier Pferde in einer Linie. Sie kommen aus dem isländische Atlantik. Kommen auf den Strand zu. Der Tritt des einen Pferdes wird unmerklich strauchelnd. Die Beine werden weich. Wie in Zeitlupe fällt es in den Sand und auf den Rücken. Die vier Beine recken sich in die Luft.
Island von oben. Auf dem Asphalt liegt ein blau gekleideter, toter Körper. Um ihn herum eine Blutlache. Ein Krankenwagen fährt vor. Sanitäter steigen aus, packen den leblosen Körper auf eine Bahre. Die Bewegungen erscheinen im Bild, verschwinden. Setzen sich in andere Bewegungen fort. Zwischen den Bildern des Abtransportes der Leiche immer wieder nur der nackte Asphalt mit der Blutlache. Gespenstisch leer. Menschenleer. Dann verschwindet der Krankenwagen aus dem Bild. Blendet sich aus, wird unsichtbar. Island von oben. Die Dächer sind blau und rot. Die Ansicht auf die Dächer ist unscharf, verschwommen.
Island. Land der Märchen und Sagen. Land der Dunkelheit, in der die phantastischen Erzählungen allabendlich Einzug halten. Und Land, in dem der Alkohol wahre Delirien des Orientierungsverlustes hervorbringen kann. Am Boden eines jeden Traumes findet sich die Realität, so sagt Páll einmal zu seiner Mutter.
Lange Zeit ist nicht klar, welche Richtung Engel des Universums, der neue Film von Fridriksson einschlagen wird, der bekannt ist für seine isländische Variante des magischen Realismus. Ist es tatsächlich so, wie die Bilder erzählen, daß Jesus nochmals auf Erden gekommen ist, auferstanden in der kargen Tristesse der isländischen Unterschicht, um ein erneutes Mal, in der Inkarnation von Páll, Gottes Wunder zu vollbringen? Die Wunder-Bilder, die wir sehen, sind nur der Trugschluß filmischer Inszenierung, illusionäres Produkt aus Montage, Stoptrick und Blue Screen. Der Effekt des Realen jedoch, der sich inmitten dieser Filmrhetorik einstellt, ist die Folge einer erfolgreichen Suggestion, die durch die sozialrealistische Atmosphäre um die Figuren aufgebaut wird: Wir glauben sofort, daß in einem Land, in dem 40jährige Kinder bei ihren Eltern wohnen und im Kinderzimmer davon träumen, Poet oder Schlagzeuger zu werden, daß in diesem Land, in dem sich die Perspektive auf das Leben verschoben hat und in dem sich die Lebensperspektive gar nicht erst einstellen möchte, daß sich in diesem Land das Wunderliche ereignen kann. Das göttliche Wunder ist bei Fridrickson immer glaubhaft und real, es muß immer wörtlich genommen werden.
Die Geschichte von Páll, dem Wiedergänger von Jesus, scheint zunächst eine isländische Neuschreibung der Bibel vorzunehmen, wenn der Film über die inszenierten Wunder-Bilder den christlichen Glauben mit der isländischen Mythologie verknüpft. Und sich dabei ganz ernst nimmt. Dann aber wird Páll in eine Irrenanstalt eingeliefert, und man möchte aufbegehren gegen das Unverständnis der Gesellschaft gegenüber den wunderlichen Ereignissen, gegen die ungerechte Abstempelung von Páll zum Irren. Das Universum der Irrenanstalt nimmt von diesem Punkt an breiten Raum in Engel des Universums ein. Nie aber wird der Film zu einer isländischen Neuausgabe von Einer flog über das Kuckucksnest, in dem die Irren irre waren und die unmenschliche Behandlung ihre Revolte rechtfertigte, zu der sie der Erlöser Jack Nicholson führen durfte. Die Irrenanstalt ist bei Fridriksson ein Paralleluniversum zur Außenwelt. Und obgleich Páll als von Gott gesandter Erlöser der Menschheit alle menschlichen Leiden auf sich nehmen kann, ist die Welt außerhalb der Irrenanstalt nie sehnsuchtsvoller Horizont für die Befreiung. Der Diskurs des Schizophrenen bewegt sich auf der gleichen, von Realität getränkten Ebene wie die Rede des ungespaltenen, normalen Bewußtseins. Die Gespräche der Insassen gehorchen alltäglicher Logik. Hier begegnet das abgleitende Bewußtsein der gelingenden Realitätseinordnung, ganz im Rahmen des Irreseins.
Engel des Universums nimmt die Insassen der Irrenanstalt ernst, ebenso ernst, wie sie sich untereinander nehmen. Fridriksson findet über die Wundererzählungen, über das Eintauchen in das Universum der Irren zu einer realistischen Erzählweise, die nichts zu tun hat mit Gesellschaftspathologie. Bei Fridriksson ist das Irreale ebenso wirklich, wie die Wirklichkeit sich jeden Moment surreale Formen suchen kann. Real – irreal, normal – anomal: das sind Kategorien, die der Film in Permutation bringt, in ein Spiel des Ersetzens und Vertauschens, in das freie Spiel von Entrückung und Verzückung – bis die Ordnung der Welt und die Orientierung in ihr verloren gegangen ist.
Wenn sich die Normalperspektive zur Irrealperspektive verschiebt, dann gerät die Erzählung über den schizophrenen Páll zur Schizophrenie der Erzählens. Der Film spaltet sich auf in zwei Ebenen, in ein stets umschlagendes Vexierbild, in welchem sich das Irreale als Reales bildlich konkretisiert, und das reale Bild stets auch Irrealität umschließt. Ästhetisches Zentrum dieser schizophrenen Ikonographie sind die Ausblendungen. Figuren verschwinden aus dem Bild, tauchen auf, Handlungen gleiten zwischen diesem Wechsel von fade in / fade out fragmentiert und dennoch kontinuierlich ineinander über. Das Bild wird bei Fridriksson mit einer Transparenz versehen, in der das Reale stets vom Verschwinden bedroht ist, in eine Ebene des Unsichtbaren abtauchen kann, in eine Sphäre, in der Engel und Elfen existieren. Wenn Bildelemente aus der sichtbaren Welt, aus dem Universum des Ersichtlichen ausgeblendet werden, dann führt ein ästhetisches Stilmittel die Story des Films auf einer ganz und gar filmischen Ebene weiter. Wenn in Momenten die Handlung sich nur noch an den vagen Spiegelungen von Fensterscheiben abzeichnet, dann ist die reale Welt von dieser filmischen Sprache des Aus- und Einblendens, des Überblendens unmittelbar betroffen. Dann zeigt sich, wie das Reale selbst in sich immer schon die Möglichkeiten von Transparenz und Verschwinden enthält. Und dann ist der Zustand des Schizophrenen nur noch die Beschreibung für den allgemeinen Zustand der Welt.
Des Schizophrenen letzter Akt ist der Selbstmord. Island ist nichts anderes als ein schizophrener Seelenzustand. Die Engel des Universums, das sind die Insassen der Irrenanstalt. Die Isländer, die alle einen Schritt vor der Schizophrenie stehen, das sind die Engel des Universums.