Kanada 2013 · 90 min. · FSK: ab 12 Regie: Denis Villeneuve Drehbuch: Javier Gullón Kamera: Nicolas Bolduc Darsteller: Jake Gyllenhaal, Mélanie Laurent, Sarah Gadon, Isabella Rossellini, Jane Moffat u.a. |
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Durchdringende Ungewissheit |
Ein Mann wartet auf die Antwort einer Frau. Geht zum Badezimmer, um sie zu suchen. Und erblickt dort Grauenhaftes. Was genau, soll nicht verraten werden, da es sich hier um das abrupt-verstörende Schlussbild des rätselhaften Identitätsdramas Enemy handelt. Ein Film, der, nicht nur in dieser Szene, vom Einbruch des Unheimlichen in das Alltägliche erzählt. Von der Auflösung aller Gewissheiten. Von menschlicher Entfremdung. Kontrollverlust und sexuellen Obsessionen. Um nur einige Themen zu nennen, die der frankokanadische Regisseur Denis Villeneuve zu einem vieldeutigen, widersprüchlichen und faszinierenden Kinoalptraum verwebt. Altmeister abgründiger Filmfantasien sind da nicht weit entfernt. Allen voran US-Exzentriker David Lynch, dessen frühere Lebensgefährtin und Blue Velvet-Star Isabella Rossellini einen eindrücklichen Kurzauftritt als dominante Mutter hat.
Die kanadisch-spanische Koproduktion Enemy, eine recht freie Adaption von José Saramagos Roman „Der Doppelgänger“, ist vollgepackt mit filmischen Verweisen. Geheimnisvollen Andeutungen und surrealen Traumbildern, die allesamt eine existenzielle Krisenerfahrung beschreiben. So fesselnd, wie nur selten in letzter Zeit. Villeneuve, dessen Hollywood-Debüt Prisoners 2013 für Aufsehen sorgen konnte, traut sich einiges zu. Jongliert gekonnt mit Genre-Erwartungen. Wirft konventionelle Inszenierungsweisen über Bord. Und schafft es doch, den Zuschauer gefangen zu nehmen. Mitzureißen. Vorausgesetzt, man lässt sich ein auf das herausfordernde Verwirrspiel, das seine noch vor Prisoners entstandene Romanverfilmung entfacht.
Schon der Einstieg erzeugt tief greifendes Unbehagen. Dunkle Gänge sind zu sehen. Eine Tür wird geöffnet. Und zum Vorschein kommt ein exklusiver Herrenclub. Eine seltsame Parallelwelt (das Unterbewusstsein?), in der Männer halbnackte Tänzerinnen begaffen. Und ganz plötzlich eine lebendige Spinne unter einer Haube hervorkriecht. Der erste Schockmoment, der kommendes Unheil verkündet und das scheußliche Krabbeltier als wiederkehrendes Angstmotiv einführt (im Roman kommt dieses Element nicht vor!).
Kurz danach setzt die eigentliche Handlung ein: Wir lernen den antriebslosen Geschichtsdozenten Adam Bell (Jake Gyllenhaal) kennen, den wir vermeintlich unter den Besuchern der düsteren Stripshow gesehen haben. Der junge Mann ist unzufrieden, womöglich depressiv. Geht seiner Arbeit ohne Freude nach. Und lebt an seiner hübschen Freundin Mary (Mélanie Laurent) vorbei. Erst als Adam in einem Film durch Zufall einen Komparsen entdeckt, der ihm zum Verwechseln ähnlich sieht, kann er die quälende Gleichförmigkeit seines Alltags durchbrechen. Unverzüglich macht er sich auf die Suche nach seinem Doppelgänger und spürt ihn schließlich auf. Anthony Clair (ebenfalls Gyllenhaal, der eine nuancierte Doppelperformance abliefert) heißt der Kleindarsteller, der zusammen mit seiner schwangeren Ehefrau Helen (Sarah Gadon) in einer schicken Hochhauswohnung lebt, von Adams Annäherungen jedoch alles andere als begeistert ist.
Dass es zu einer Konfrontation zwischen den optisch fast deckungsgleichen, aber im Verhalten grundverschiedenen Männern kommen wird, muss nicht verwundern. Umso überraschender ist allerdings der Weg, den Villeneuve und Drehbuchautor Javier Gullón beschreiten. Nicht pseudo-spannende Thriller-Wendungen und hektische Zuspitzungen sind es, die den Zuschauer ständig das Schlimmste befürchten lassen. Vielmehr lebt Enemy von einer durchdringenden Ungewissheit. Wer ist das plötzlich auftauchende Ebenbild? In welcher Beziehung stehen Adam und Anthony? Existieren wirklich beide Figuren? Oder ist eine von ihnen bloß einem verwirrten Geist entsprungen? Fragen, die fortlaufend neue Nahrung erhalten, aber keine eindeutige Auflösung erfahren (auch wenn sich, wie mancher Kritiker bemerkt, eine Interpretation aufzudrängen scheint).
Äußerst präsent sind die psychosexuellen Spannungen, die das Geschehen seit den ersten Einstellungen im Herrenclub durchziehen. Das Verhältnis von Männern zu Frauen spielt eine Rolle. Besser gesagt: Der Umgang mit dem weiblichen Geschlecht, den die beiden Protagonisten offensichtlich verlernt haben. Der unsichere Adam schläft zwar mit Mary, hat sich ansonsten aber von ihr abgekoppelt. Sein selbstbewusst auftretender Doppelgänger wiederum ist werdender Vater, verhält sich seiner Ehefrau gegenüber jedoch äußerst kühl und abweisend. Bizarr mutet in diesem Zusammenhang nicht zuletzt das Machtspiel an, das Adam und Anthony irgendwann um ihre Partnerinnen lostreten.
Mögen die sexuellen Neurosen noch so deutlich hervorstechen, liefern sie bloß einen möglichen Deutungsansatz. Äußert fruchtbar sind nämlich auch die recht früh eingestreuten Hinweise zur Frage, wie totalitäre Systeme ein Volk unter Kontrolle halten können. Das Prinzip „Brot und Spiele“ sei im alten Rom ein probates Mittel gewesen, erfahren wir in einem Vortrag des Geschichtsdozenten. Massenunterhaltung also, die den Bürger belustigen und zugleich gefügig machen soll. Wie ist es vor diesem Hintergrund einzuordnen, dass Adam ausgerechnet in einem Film auf sein vermeintliches Ebenbild stößt? Und in der Folge quasi paranoide Züge entwickelt? Dem Doppelgänger hinterherspürt, wie ein besessener Detektiv. Folgt der verunsicherte Mann etwa filmischen Mustern? Und ist vielleicht am Ende der mediale Apparat für seine Verwirrung mitverantwortlich?
Wie auch immer man diese Fragen gewichten will, steht eines außer Zweifel: Was der Film konkret und unverstellt über seine Form vermittelt, ist ein umfassendes Gefühl für die Panik, die Adam befällt, ihn nicht mehr loslässt und in einen dramatischen Abwärtsstrudel reißt. Ausweglosigkeit und Gleichförmigkeit kommen in den durchweg flirrenden Sepia-Tönen zum Ausdruck, die Enemy (vielleicht nicht ungewollt) in die Nähe des Paranoia-Kinos der 1970er Jahre rücken. So farblos und eintönig wie das Leben des Uni-Professors sind auch die Bilder selbst. Für Entfremdung und Anonymität stehen die gefährlich aufragenden Hochhausungetüme des namenlosen Handlungsortes (gedreht wurde vor allem in Toronto), die Kameramann Nicolas Bolduc wiederholt dem hilflosen Individuum gegenüberstellt. Eindrücklich, da ungemein suggestiv, ist auch das dissonante, bedrohlich wabernde Sounddesign (Danny Bensi und Saunder Jurriaans), das die Beklemmung und die Unruhe auf Seiten des Zuschauers nur noch mehr steigert.
Man darf gespannt sein, wie Villeneuve menschliche Abgründe in Zukunft in den Blick nehmen wird. Als Nachfolger von David Lynch, der in den letzten Jahren des Öfteren seine Kino-Müdigkeit bekundet hat, macht sich der Kanadier sicher nicht schlecht. Zumindest solange er seine eigenständige Herangehensweise ans Filmemachen beibehalten kann.