Polen/I 2022 · 88 min. · FSK: ab 12 Regie: Jerzy Skolimowski Drehbuch: Ewa Piaskowska, Jerzy Skolimowski Kamera: Michal Dymek Darsteller: Sandra Drzymalska, Isabelle Huppert, Lorenzo Zurzolo, Mateusz Kosciukiewicz, Tomasz Organek u.a. |
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Kein Krippenspiel: Esel Eo im Tiertransport | ||
(Foto: Rapid Eye Movies) |
»E-O«, oder ins Deutsche übersetzt: »I-A«. So schlicht, mit zwei onomatopoetisch aneinandergefügten Buchstaben, beginnt das jüngste Werk eines filmhistorischen Urgesteins. Der heute 84-jährige Jerzy Skolimowski hatte in den Sechzigerjahren die Neue polnische Welle losgetreten und Meisterwerke wie Le départ (1967) und die Dialoge für Roman Polanskis Das Messer im Wasser (1962) geschaffen, als dieser als Enfant terrible des osteuropäischen Kinos noch bewundert wurde. Skolimowski warf mit seinen Filmen Erzähl- und Produktionskonventionen über Bord, pflegte den kreativen Anarchismus und erzählte vom Schicksal listiger Überlebenskünstler am Rande der Gesellschaft. Mit einfachsten Mitteln entstanden Geschichten über strauchelnde Kleinkriminelle, traumhafte politische Parabeln oder kraftvolle Schicksalserzählungen, die die Welt filmisch auf den Kopf stellten.
Das trifft auch für EO und seinen Protagonisten zu. Der Film erzählt schlicht und ergreifend von den misslichen Abenteuern eines Esels namens »Eo«, eine Art Remake von Robert Bressons Klassiker Au hasard Balthazar. Skolimowski spitzt den in das Verderben führenden Plot zu einem fast epischen Leinwand-Schelmenroman zu. Erzählt wird, wie Esel Eo vom Regen in die Traufe kommt, von einer zunächst glücklichen Existenz in einem Zirkus, wo er mit Dompteurin Kasandra ein inniges Verhältnis hat und viel Liebe erfährt. Das Verderben beginnt, als wohlmeinende Tierschützer den Esel aus dem Zirkus befreien und er von da an von einem Herrn zum nächsten geschubst wird, bis er schließlich die Flucht in die Freiheit antritt. Denn obwohl sich sein Schicksal zu Beginn jeder Episode gut anlässt – am Ende landet er doch nur unter dem Eselsgeschirr und zieht einen Karren, wird angetrieben und ausgepeitscht, weil die Menschen die Geduld verlieren, wenn der Esel nicht so will wie sie. Sehr, sehr oft blickt man in ein überaus trauriges schwarzes Eselsauge.
Der Film wird konsequent aus der Perspektive von Eo erzählt und kommt folglich fast ganz ohne Dialoge aus. Statt dessen sind auf einer ausgefeilten Soundspur allerlei Tierlaute zu hören: das schnarrende Krabbeln von Ameisen über einen Baumstamm, das U-huen eines Käuzchens im Wald, das Bellen der Hunde auf den Höfen, das schrille Aufkreischen hässlicher Hyänen und das ohrenbetäubende Aufwiehern von Zuchtpferden auf einer Koppel. Letzteres wird visuell unterstützt durch Weichzeichner und Zeitlupe, man fühlt sich wie in einem Pferdefilm für Erwachsene. Und natürlich ist ganz oft zu hören, wie der Esel sein Klagelied in die Nacht hinausruft: »I-A! I-A!« Da werden sogar Steine weich.
Es ist durchaus ungewöhnlich, auf Spielfilmlänge der Wahrnehmung eines Esels zu folgen und ein Tier als Identifikationsfigur zu akzeptieren. Dies verändert den Blick auf die Welt: Immer treten in den Szenen als erstes die Tiere ins Zentrum. Die Menschen sind in diesem Universum nicht mehr als eine Randerscheinung, sind diffuse Umwelt, auch wenn sie mit niederen Absichten das Schicksal der Tiere in der Hand halten. Sie zeigen sich laut und brutal (man weiß vom sensiblen Hörempfinden der Tiere), selbst die Gegenstände entfachen mehr Empathie als die Kreaturen auf zwei Beinen. Wenn ein Fußball gekickt wird, wie einmal, als Eo auf ein Spielfeld gelangt, geht die Kamera auf Ballhöhe und erzählt von dem gewaltigen Stoß, den der Fußball erleidet.
Karen Barad hätte ihre größte Freude daran. Die amerikanische Physikerin hat die Theorie des »agentiellen Realismus« in die Welt gesetzt, nach der die Welt nicht von »Dingen bevölkert wird, die sich mehr oder weniger voneinander unterscheiden. Beziehungen hängen nicht von ihren Relata ab, sondern umgekehrt«. Übersetzt heißt das: jedes Wesen und jeder Gegenstand kann Zentrum der Welt sein – nicht nur der Mensch, den Immanuel Kant als konstituierendes Subjekt auf den anthropozentrischen Thron gehoben hat. Auch die Theorien der Animal Studies der feministischen Cyborg-Theoretikerin Donna Haraway drängen sich auf, die in ihrer späten Phase die Tiere entdeckt hat. Mit den »companion species« betrachtet sie Haus- und Nutztiere nicht aus einer Menschenperspektive wie zum Beispiel Konrad Lorenz, sondern sieht die Tiere auch als selbstbestimmte Akteure. Akteure, oder wie bei Skolimowski: Protagonisten, die sogar einen ganzen Film tragen können.
EO ist so ein durchweg überraschender Beitrag zu diesen überaus angesagten Theorien. Trotzdem kann getrost angezweifelt werden, dass Skolimowski diese beiden eminenten Philosophinnen gelesen hat. In erster Linie ist EO ein flammendes Plädoyer für die Liebe zu Tieren, für ihre Achtung und sogar für den Vegetarismus. Das berührt, ist manchmal plakativ, oft auch verstörend. Meistens aber wirkt es ganz natürlich, wenn die Tiere über die Montage miteinander zu kommunizieren beginnen und der Perspektivwechsel einsetzt.
Anders als in Tierfabeln, etwa der armenische Border (2009) von Harutyun Khachatryan, der einen freiheitsliebenden Büffel im Grenzgebiet von Armenien-Aserbaidschan als symbolhaften Helden für die jüngere Geschichte inszenierte, drängt sich in EO eine allegorische Ebene und soziopolitische Gleichnisse nicht auf. Im Gegenteil: Skolimowski meint seine Geschichte von den bösen Menschen und dem aufrechten Esels durchaus wörtlich. So wagt er in seinem Spätwerk noch einmal den Angriff auf das herrschende System, das hier nichts weniger als den Menschen meint, und setzt sich erneut an die Speerspitze eines politischen Kinos, das die narzisstischen Probleme und globalen Krisen der allgegenwärtigen Menschendämmerung aufspießt.
Ein Esel als Hauptfigur eines Films. Man begegnet der Hauptfigur zuerst im Zirkus, wo sie mit der Dompteurin und Reiterin Cassandra eine enge und zärtliche Beziehung hat. Aber auch diese Liebe ist nicht grenzenlos. Sie ist nicht immer in der Lage, das Tier zu beschützen. Er hingegen bestätigt dem Betrachter immer wieder, wie sehr er seine Betreuerin liebt und wie sehr er sich nach ihr sehnt. Er wird von Tierschützern aus dem Zirkus und vor der angeblichen »Tiermisshandlung«
»gerettet«, einer der offen sarkastischsten Momente des Films, denn Regisseur Jerzy Skolimowski zeigt hier mit offensichtlicher Lust, wie absurd, kurzsichtig, und quälend primitiv die Mission dieses »Tierschutz« ist.
Denn Skolimowski zeigt ein Tier, das im Showgeschäft ist. Es ist im Zirkus glücklich. Aber es wird von den Umwelt- und Tierrechtsaktivisten in sein Unglück befreit.
Diese Befreiung ins Unglück ist eine ganz wesentliche Wendung in diesem Fall.
Denn mit ihr beginnt eine Odyssee des Tieres, die in einer Reihe von Vignetten erzählt ist, und den Esel von einem reichen Pferdehof in die öffentlichere Umgebung eines Zoos führt, dann auf die Straße und in immer tiefere Abgründe des modernen Lebens. EO wird auch auf einem Schlachthoflaster landen, aber ein Wunder wird ihm zu Hilfe kommen, und ein vielleicht falscher, aber bestimmt böser Priester wird ihn unter seine Fittiche nehmen.
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Ein Esel als Hauptfigur und Protagonist eines Films. Natürlich denken Cinephile und solche, die es werden möchten, hier schnell an Robert Bresson und seinen Film Au hasard Balthaza von 1966. Auch hat Skolimowski daran gedacht, als er sich entschloss, einen Film zu machen, der um einen Esel kreist.
Tatsächlich ist dies einerseits ein weiterer Film über einen Esel, dem es in der Welt der
Menschen schlecht geht. Und doch – was für ein Unterschied!
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Skolimowski erzählt Bressons alte moralische Fabel neu, aber eben auch ganz anders, so, dass er auf deren Leerstellen verweist: War für Bresson der Esel noch allein ein Spiegel für die Probleme und Sünden der Menschen, so geht es nun auch um den Esel selbst, und um seinen Blick auf die Welt.
Bresson interessierte sich für das Tier nur insofern, als es Defizite der Menschen deutlich machte und deren Kitschästhetik des Mitleids triggert.
Skolimowski versucht über den Esel im
Zentrum so etwas wie eine Art Metapher oder zumindest eine Chronik für menschliches Verhalten, menschliches Handeln und menschliche Gesellschaft zu erzählen. Zugleich gibt er dem Tier einen unerwarteten Eigenwert: Es ist hier nicht mehr »für andere«, für die Menschen da, auch nicht »für sich«, sondern einfach da.
Der Esel wird trotzdem ausgebeutet, denn die Welt, Skolimowskis Welt allemal, ist schlecht: Vielleicht schon im Zirkus, jedenfalls aber von allen späteren Gutsbesitzern und Behindertenbetreuern, sonderbaren Gräfinnen und Eselswurstfabrikanten. Der Film zeigt eine vom Bösen gezeichnete Welt, ein Europa am Rande der Apokalypse.
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Nun weiß Skolimowski, dass sich in so ein (dummes?) Eselsgesicht allerlei (kluge?) Gedanken hineininterpretieren lassen.
Erst recht in einer Zeit, in der zunehmend Filme gedreht werden, in denen keine Menschen mehr vorkommen, in denen Geschichten eines Tieres erzählt werden, das irgendwie vermenschlicht, individualisiert mit Subjektivität versehen wird: Filme wie Viktor Kossakowskis Gunda oder Andrea Arnolds Cow haben ihre Verdienste, handeln auch von den Menschen und sind nicht schlecht. Sie sind aber gerade in ihrem Kern philosophisch unterkomplex und banal, einfach nicht auf der Höhe des Diskurses – was natürlich ein Publikum nicht kümmert, für das Philosophie bestenfalls Lebenskunst ist,
und das jeden Tag mehr in Leitartikeln und Talkshowauftritten von Richard David Precht, Gerd Scobel und Eckehard Hirschhausen einübt, den Menschen als etwas Externes als ein Problem zu sehen.
Wem erscheint es heute noch kurios, dass in Büchern schon im Titel vom »Denken des Waldes« und der »Ethik der Pilze« die Rede ist, und schlagzeilenbemühte Naturwissenschaftler ernsthaft über »Menschenrechte für Menschenaffen« räsonnieren?
Heute hält man längst »den Menschen« für die
universale Bedrohung »des Lebens«, nicht mehr – gerade auch in seinen Schwächen und Fehlern – für einen Teil der Natur. Denn längst wird bei vielen (linken Theoretikern) der »Posthumanismus« propagiert, oder (bei Rechten und Neoliberalen) der »Transhumanismus« – unterschiedliche verbrämte Abschiede vom Menschen.
Wo steht in diesen Diskursfeldern Skolimowskis Film? Auch ihm geht es darum, der Wut auf die menschliche Wirklichkeit Ausdruck und Gestalt zu geben.
Skolimowskis EO ist der Film der Zeit und der Stunde, der schicken, völlig diffusen, aber dabei um so ideologischeren Rede vom »Anthropozän« – einer Rede, die ja nicht als Feststellung oder Verheißung gemeint ist, sondern als Forderung, der Mensch sollte sich von der Gestaltung der Natur
bitteschön abmelden.
EO geht aber auch das zu weit. Dies ist ein Werk voller Lärm und Energie, voller atemloser Wut. Skolimowski schwimmt gegen den Strom von allem und jedem; er ist bereit, mit dem aktuellen Zustand der Welt abzurechnen. Aber ohne es besser zu wissen.
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Der Regisseur hat erzählt, dass die Arbeit mit den Schauspielern, die seine Filme zuvor dominiert haben, auf intellektueller Arbeit beruht, während die Erfahrung mit EO seine Arbeitsweise verändert habe: Die einzige Waffe, die er hatte, um die sechs Esel, die die Figur Eo spielen, zu dirigieren, sei Zärtlichkeit gewesen. Er spricht auch von der »Individualität« und dem »idiosynkratischen Wesen« der Esel. Vielleicht ist das ein bisschen banal, ein
bisschen zynisch, oder umgekehrt, falls er das ernst meint, doch naiver, als man es dem Mann zutraut.
Das Endergebnis ist jedenfalls so oder so absolut hypnotisierend. Denn es geht hier vor allem um die subjektive und sinnliche Erfahrung des Films.
Nichts ist klar in diesem Film, alles ist spannend.
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Skolimowski zeigt sich hier als ein über 80-jähriger Wilder, ein innerlich junger Hippie. Einer, der den banalen politischen Agenden unserer Gegenwart eine dezidiert ästhetische Agenda entgegensetzt.
Es lohnt sich, einen unvoreingenommenen Blick auf einen Film zu werfen, der völlig außerhalb der Norm und der Erwartungen liegt, der ebenso uneinheitlich und kapriziös wie anregend und originell ist.