Japan 2014 · 104 min. · FSK: ab 0 Regie: Hiromasa Yonebayashi Drehbuch: Keiko Niwa, Masashi Ando, Hiromasa Yonebayashi Musik: Takatsugu Muramatsu |
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Auf der Suche nach der verlorenen Kindheit |
»Sie ging hinunter zum Rand des Wassers und sah, was Silla sie sehen lassen wollte. Muscheln und Tangstreifchen waren sorgfältig zu Buchstaben gelegt worden. Deutlich stand im Sand ein Name zu lesen: MARNIE.«
(Joan G. Robinson, »When Marnie was there«)
Was für ein Abschied. Was für eine Schönheit. Was für eine Traurigkeit. Das also ist nun Studio Ghiblis wohl letzter Film, die Verfilmung des wunderbar zärtlichen, englischen Kinderbuchklassikers »When Marnie was there« von Joan G. Robinson. Eines tatsächlich betörenden, traurig-schönen Buches, das einer der beiden Ghibli-Gründer und einer der begnadetsten Zeichentrickkünstler unserer Gegenwart, Hayao Miyazaki, schon vor vielen Jahren zu einem der 50 besten Kinder- und Jugendbücher erklärte. Ein Abschied, der passender nicht sein könnte.
Denn Erinnerungen an Marnie, wie der deutsche Verleihtitel heißt, ist eine Gespenstergeschichte, ist eine Geschichte über eine verlorene und wiedergefundene Kindheit, über den Brückenbau zwischen den Generationen, ist eine Coming-of-Age-Geschichte, die poetische Verkörperung der Rite de passage zum Erwachsenwerden und damit auch über das Erwachsenwerden dieses großartigen Zeichentrickstudios. Eines Studios, dass nun Filmgeschichte ist, nachdem ihre in die Jahre gekommenen Gründer HayaoMiyazaki und IsaoTakahata Ende 2014 erklärten, eine nicht näher konkretisierte Auszeit nehmen zu wollen. Umso passender ihr Abschiedsgeschenk, ihre Erinnerungen an Marnie.
Denn wie bislang alle Ghibli-Filme ist auch Marnie eine primär japanische Geschichte. Aus Robinsons englischer Vorlage mit ihren englischen Landschaften und Seeblicken ist eine japanische Geschichte geworden, die der 12-jährigen Anna aus Sapporo. Anna findet keine Freunde, ist isoliert, wird immer schwermütiger und auch ihr Asthma verstärkt sich, weshalb sich ihrer Mutter entschließt, sie über die Ferien zu Verwandten an der Küste zu geben. Dort trifft Anna nicht nur auf gänzlich andere Familienstrukturen, als sie es von Zuhause gewöhnt ist, sie empfindet beim Anblick eines alten verlassenen Hauses auch eine seltsame Anziehungskraft, ein Gefühl von »Zuhause«, das ihr bislang nicht bekannt war. In immer wieder gebrochenen Sequenzen, die zwischen Realität und tranceartigen Momenten changieren, findet Anna nicht nur den Schlüssel zu ihrer eigenen bislang verschlossenen Biografie, sondern schließt zum ersten Mal im Leben auch Freundschaften, mit einem anderen Menschen und mit einem Gespenst.
Regisseur Hiromasa Yonebayashi, der Ghibli inzwischen verlassen hat, findet für diese alles andere als eindeutige Geschichte ein atemberaubendes Konzept. Zum einen referenziert er auf bekannte Ghibli-Muster: Anna könnte in ihrer mal verzweifelten, dann wieder traumwandlerischen Suche nach Wahrheit auch Kiki, Prinzessin Mononoke, Chihiro oder Prinzessin Kaguya sein. Zum anderen konfrontiert er eine Ghibli-Heldin erstmals mit der japanischen Gegenwart. Waren Filme wie der großartige Mohnblumenberg oder Wie der Wind sich hebt stets auch Porträts von Japans historischer Moderne, ist Ghibli mit Marnie tatsächlich in der japanischen Gegenwart angekommen. Die Bilder moderner Hochgeschwindigkeitszüge und einer immer stärker vernachlässigten japanischen Peripherie sind dabei ebenso eindrucksvoll wie bislang alle »Realiäten«, die Ghibli transformiert hat. Fast jede Anfangseinstellung einer neuen Szene gleicht einem Gemälde und man wünscht sich immer wieder, dass der Film anhalten möge, um einem mehr Zeit zu lassen, diese Miniaturkunstwerke in Stille und Ruhe zu genießen. Bei aller Kunstfertigkeit der Animation vernachlässigt Yonebayashi an keiner Stelle den Plot, der neben seinen transzendentalen Momenten immer wieder im richtigen Moment vererdet wird und sich vor allem am Ende vor großen Gefühlen nicht versteckt. Aber selbst diese »großen« Gefühle sind derartig überraschend und dezent verpackt, dass man vor lauter Tränen aus dem Staunen kaum herauskommt.
Staunen ohne Ende. Staunen zu guter Letzt nicht nur darüber, dass Ghibli mit dieser filmischen Ankunft in der Gegenwart auch gleichzeitig das eigene Ende beschließt, sondern dass dies ausgerechnet mit Hiromasa Yonbayashi geschieht, Ghiblis jüngstem Regisseur, der bereits 2010 mit Arrietty als Regisseur debütierte, nachdem er zuvor als Chefzeichner bei zahlreicher Ghibili-Prdouktionen mitgewirkt hatte. Mit dieser finalen Arbeit schließt Yonebayaschi nicht nur einen künstlerischen, historischen und erzählerischen Kreis, sondern er empfiehlt sich damit auch als Regisseur, der die Tradition von Ghibli auch nach dem Ende des Studios fortführen und aus dem Ende tatsächlich einen Neuanfang gestalten könnte.