Deutschland 2024 · 241 min. · FSK: ab 12 Regie: RP Kahl Drehbuch: Peter Weiss, RP Kahl, Alexander van Dülmen Kamera: Guido Frenzel Darsteller: Rainer Bock, Clemens Schick, Bernhard Schütz, Christian Kaiser, Dirk Ossig u.a. |
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Der Richter: Rainer Bock | ||
(Foto: Leonine) |
Eine karge Bühne, typische Black Box eines Off-Theaters. Schauspieler sprechen mit deutlicher Artikulation, ein Verhör ist im Gang. Ein Richter, ein Staatsanwalt, Männer und Frauen, die in den Zeugenstand gerufen werden. Seitlich sitzen, wie in einem Amphitheater aufgetürmt, die achtzehn Angeklagten. Als wären sie bloß Zuschauer in dem Prozess, oder gar auf einer Fußballtribüne, begleiten sie die Befragungen durch den Richter und Staatsanwalt mit Reaktionen, flüstern sich was zu, schütteln den Kopf. Meist schauen sie mit leerem Blick vor sich hin. Sie sind entweder empört – oder ungerührt.
Willkommen beim Prozess von Auschwitz.
Erst 1965, zwanzig Jahre nach dem Ende der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten, zwanzig Jahre nach Beendigung ihres Vernichtungsfeldzuges und zwanzig Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager, wurde der erste Prozess in Frankfurt abgeschlossen, der zwei Jahre lang von der bundesdeutschen Justiz gegen Nazi-Verbrecher durchgeführt wurde. Angeklagt waren ehemalige Angestellte des Konzentrationslagers. Bis zu ihrer Verhaftung hatten sie ganz normal in der jungen Bundesrepublik gelebt, sich eine neue Identität gegeben und gearbeitet. Als Handwerker, Krankenpfleger, Lehrer und Ärzte. Nur vier Jahre zuvor hatte Hannah Arendt anlässlich des Prozesses gegen Adolf Eichmann, der die Deportationen und Ermordungen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern in ganz Europa verantwortete, den Gedanken von der »Banalität des Bösen« geprägt. In Frankfurt wurden neben den angeklagten Nazi-Verbrechern auch Überlebende des Holocaust als Zeugen der Nazi-Verbrechen angehört. Ihre Zeugenschaft bringt die Monströsität des Bösen hervor. Das Banale gibt es nicht.
Der Berliner Regisseur RP Kahl hat einen konzentrierten Film über den Prozess geschaffen, der zunehmend zu einer Höllenfahrt direkt ins Zentrum der Vernichtung wird. Die Ermittlung basiert auf dem gleichnamigen Stück von Peter Weiss, das er auf der Basis der Zeitungsberichte über die Frankfurter Prozesstage geschrieben hatte. Weiss kondensierte Hunderte von Aussagen von Zeugen und Angeklagten, wie sie in den Tageszeitungen wiedergegeben wurden – es lagen keine eigentlichen Gerichtsprotokolle vor – und schrieb das »Oratorium in 11 Gesängen«, ein dokumentarisches Bühnenstück. Wie Weiss verzichtet auch Kahl in seinem Film auf die illusionsstiftende Mimesis und die darstellende Repräsentation. Die ganze Konzentration kommt dem gesprochenen Wort zu. 60 Schauspielerinnen und Schauspieler, darunter Nicolette Krebitz, Peter Lohmeyer, Axel Pape, Christiane Paul, Sabine Timoteo, erzählen in unausweichlicher Klarheit vom Grauen des Holocausts. Rainer Bock als Richter, Clemens Schick als Ankläger und Bernhard Schütz als Verteidiger lenken den Prozess.
RP Kahl hält sich eng an den Text von Weiss und folgt der topographischen Struktur seiner »11 Gesänge«. Es beginnt an der Rampe, bei der Deportation, befragt wird als Zeuge der Bahnhofsvorstand. Dann ein Zeuge, der in einem der als »Umsiedlertransporte« getarnten Deportationen mitfuhr. 89 waren sie im Waggon, er erzählt von der Not und der Notdurft, vom Herauswerfen der Toten aus dem Zug. Dann, Ankunft: »Am Ende der Rampe war der Himmel rot gefärbt, die Luft war voll von Rauch. Der Rauch roch süßlich und versengt. Dies war der Rauch, der fortan blieb.«
Peter Weiss schreibt diese Zeilen als epische Verse, mit Zeilenumbrüchen und ohne Satzzeichen. Seine Vorbilder waren Homers »Odyssee« und Dantes »Divina Commedia«. RP Kahl hat dem Text seinen literarischen Kunstwillen wieder genommen und bringt ihn in seiner Inszenierung in den natürlichen Sprachfluss zurück. Er verzichtet jedoch auf naturalistische Aussprache und folgt im Stil der Schauspielführung eher Aki Kaurismäkis »No Acting« als dem Hollywood'schen »Method Acting«. Es gibt keine Emotionalisierung, kaum stockende Reden, keine Tränen, kein Schreien. Es zählt das gesprochene Wort.
Nach der »Rampe« geht es ins »Lager«, dann folgt die erste Todesart, die »Schaukel«, später die »schwarze Wand«, das »Phenol« und schließlich: »Zyklon B«. Am Ende bleiben nur noch die »Feueröfen«. Jede Station ist ein Gesang, der intensiv dieses eine Thema entfaltet. Nur einmal gibt es kurz Hoffnung, mit der »Möglichkeit des Überlebens«. Der Gesang aber zeigt die Grausamkeit des Vernichtungssystems, die Perfidie der etablierten Gefangenenhierarchie, zeigt den in Gang gesetzten Darwinismus und den unbedingten Überlebenswillen der Internierten. Man erinnert sich an Giorgio Agambens »Was von Auschwitz bleibt«, an die Zeugenberichte dort. »Ich hatte den festen Entschluss gefasst, nicht freiwillig in den Tod zu gehen. Ich wollte alles sehen, alles durchmachen, alles erfahren, alles in mir aufnehmen. Ich wollte mich nicht ausschalten, nicht den Zeugen ausschalten, der ich sein konnte.«
Auch über den Zustand der BRD nach zwanzig Jahren Entnazifizierung erfährt man viel. Darüber, dass die Akteure von damals unbehelligt, auch von schlechtem Gewissen oder Albträumen, einfach wieder ins zivile Leben zurückgekehrt waren. Die Generalausrede für die Anklagepunkte lautet stets: Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Oder: Ich habe nur einen Befehl ausgeführt. Oder: Das habe nicht ich gemacht, dafür war der »Funktionshäftling« zuständig. Man lernt im Laufe des Prozesses auch viele Unworte.
Acht Kameras fangen die Befragungen auf der Bühne ein, gedreht wurde jeder Gesang in nur einer Einstellung, mit einer je unterschiedlichen Lichtdramaturgie. Kühles Weißlicht schält zu Beginn die Akteure aus dem Dunkel der Bühne. Ab dem 4. Gesang von der »Möglichkeit des Überlebens« und mit dem nahenden Tod setzt die Farbdramaturgie ein. In grünliches, orangefarbenes, höllenrotes Licht getaucht, verunheimlicht sich das Bühnengeschehen zur Geisterbahnfahrt, gibt sensorische Reize, die direkt das emotionale Zentrum im Gehirn ansprechen. Matti Gajek, bekannt als Komponist von hypnotisch-elektrisierenden Musik-Dissonanzen, hat einen beunruhigenden, eindringlichen Score geschaffen, der nur an wenigen Momenten im Film anhebt, und in die Schilderungen hineinzieht.
Über die Schrecken der Nazi-Herrschaft, auch über Gerichtsprozesse, gibt es viele Filme. Sie sind wichtige Erinnerungskultur, aber auch ein ziemlich sicheres Ticket für das Oscar-Rennen. Es gibt gute und überraschende Filme wie Vadim Perelmans Persischstunden, oder László Nemes beklemmenden Son of Saul. Bei Perelman ist jedoch die märchenhafte Fiktionalisierung das Problem, bei Nemes wiederum, der direkt an die Öfen von Auschwitz führt, zeigt sich die obszöne Grenze des Darstellbaren. Die auffällige künstlerische Gestaltung mit klaustrophobischem 4:3-Bildformat und durchdringendem Sound-Design machen das Unvorstellbare zwar eindringlich, mit der Konzentration auf das eine Schicksal aber verwehrt es das Verstehen der Komplexität.
Hier, bei RP Kahl, gibt es das alles nicht, weder die Fiktionalisierung, noch den ästhetischen Überschuss. Es gibt kein Reenactment. Keine Dramatisierung. Alles ist ohnehin Drama und Schrecken, der nichts weiter braucht als die Schilderungen der vor Gericht Aufgerufenen. Ihre Worte entwickeln einen unausweichlichen Sog, der immer stärker wird, je weiter das vierstündige Opus voranschreitet. Bis es kein Entrinnen mehr gibt.
RP Kahl hat ein Monument von einem Film geschaffen und einen Meilenstein gesetzt, wie von nun an mit diesem deutschen Horror-Stoff umzugehen sei. Sein dokumentarischer Spiel- und Theaterfilm beweist, dass sich auch die Kinoleinwand hervorragend dazu eignet, Verzicht zu üben und ganz auf die Kraft der Worte zu vertrauen. Natürlich verlangt sein vierstündiges Epos dem Zuschauer einiges ab. Aber nicht die Länge und die Reduziertheit der Darstellung sind das Herausfordernde. Es sind die nüchternen Zeugenaussagen und die Abwehrstrategie der Angeklagten, die zunehmend Ekel erzeugen. Genuiner Ekel vor dem Horrifizierenden, nur durch die Kraft der Worte hervorgebracht.
Der Verleih Leonine, der auch schon Jonathan Glazers außergewöhnlichen Auschwitzfilm The Zone of Interest vertrieben hatte, bringt Die Ermittlung nun in 57 Kinos heraus. Es ist ein beispielhaftes Statement eines Mega-Players der Branche, sich auch für schwierige Filme zu engagieren und der Erinnerungskultur finanzkräftige Unterstützung zu geben. So ist aus vielen Gründen Die Ermittlung schon jetzt der mutigste und beste deutsche Film des Jahres.
»Ich glaube es ist ein Film.«
– Peter Weiss über »Die Ermittlung«
Der Clou von RP Kahls Peter Weiss' Verfilmung Die Ermittlung ist eigentlich ganz einfach: Der Film zeigt nichts. Und dadurch macht er alles sichtbar.
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Ein Prozess, eine Ermittlung der Fakten – das Theaterstück »Die Ermittlung« von Peter Weiss (1916-1982), ein »Oratorium in elf Gesängen«, ist nicht nur eines der erfolgreichsten deutschen Theaterstücke der Nachkriegszeit, es ist auch dokumentarische Verdichtung eines Gerichtsverfahrens, das die Bundesrepublik veränderte: Knapp zwei Jahre dauerte der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963-1965, bei dem, angeschoben von Fritz Bauer, erstmals Deutsche über
Deutsche zu Gericht saßen. Peter Weiss verfolgte die Verhandlungen und verdichtete sie zu einem rund vierstündigen Drama in der Tradition des Brecht’schen Theaters.
Nach zwei Verfilmungen, die bereits 1966 fürs Fernsehen (ARD und DDR) entstanden, hat der Berliner Regisseur RP Kahl, bisher für experimentelle Independent-Filme bekannt, das Stück nun fürs Kino verfilmt – mit über 60 deutschen Schauspielern, darunter Rainer Bock als Richter, Clemens Schick als Ankläger,
Bernhard Schütz als Verteidiger, Christiane Paul, Nicolette Krebitz, Barbara Philipp, Karl Markovics und vielen anderen als Zeugen.
Das Ergebnis ist ein Gerichtsdrama, doppelt beklemmend durch seine politische Aktualität wie durch seinen historischen Wahrheitsgehalt.
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Es ist ein Film, in dem es um den ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt geht, den ersten NS-Prozess, bei dem Deutsche über Deutsche zu Gericht saßen – nicht die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Der Prozess endete ziemlich genau zwei Jahrzehnte nach der Kapitulation des Deutschen Reichs. Deswegen ist dies auch ein Film über den Umgang mit der Ermordung der europäischen Juden in der frühen Bundesrepublik, ein Film über Verdrängung und Verdrängungsverweigerung, über Tonlagen und Wortwahl beim Sprechen über das Unaussprechliche, ein Film über das Verschweigen und das Zur-Sprache-Bringen.
Und ein Film über die Ausreden:
»Dem Gericht liegen Fahrplananordnungen vor, die von Ihnen unterzeichnet sind.«
»Ich habe das vielleicht einmal vertretungsweise unterschreiben müssen.«
»War ihnen der Zweck der Transporte bekannt?«
»Nein ich war nicht in die Materie eingeweiht.«
»Sie wussten, dass die Züge mit Menschen beladen waren...«
»Wir erfuhren nur, dass es sich um Umsiedlertransporte handelte, die unter dem Schutz des Reichs standen.«
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Heutzutage ist Peter Weiss, der den Nationalsozialismus als Emigrant in Schweden überlebte und erst spät nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehrte, ein weitgehend vergessener Autor. Damals, in den Jahren vor 1968 war er in der Mischung aus Nüchternheit und unerbittlichem Engagement sehr en vogue. Weiss war selbst bei den Auschwitz-Prozessen dabei und hat seine Prozessnotizen und die öffentlichen Protokolle benutzt und mit Hilfe dieser Aufzeichnungen den zwei Jahre
dauernden Prozess auf vier Stunden verdichtet.
Seinerzeit war »Die Ermittlung« ein Riesenerfolg auf allen deutschen Bühnen beider Deutschlands.
Als Film ist dies nun ein nüchternes, kühles, aber zugleich mitreißendes Gerichtsdrama; ein Prozessfilm. Kahl verfilmt das Stück. Es ist nicht einfach abgefilmtes Theater, er macht einen Film, ohne den Text seines Theatercharakters zu berauben.
Die Schauspieler spielen reale Figuren, sagen Worte, die im Prinzip so gesagt worden sind. Deren Grundlage sind Fakten. Dokumentierte Realitäten werden also fiktionalisiert.
Es ist ein Film ohne naturalistische Kostüme. Aber es gibt historische Artefakte: die Sonnenbrillen, die Mikrofone, die Anzüge.
Es handelt sich bei dem, was man sieht, hauptsächlich um einen schwarzen Raum, um eine Blackbox, durch die die Handlung ein Stück weit abstrahiert wurde, ohne dass sie komplett abstrahiert ist. Das Spiel ist zwar realistisch, aber nicht naturalistisch. Es reproduziert also nicht eine 1:1-Version der Realität. Anders würde es auch dem Ernst des
Themas gar nicht gerecht werden.
Das Multicam-Verfahren, in dem das Spiel von acht Kameras parallel aufgenommen wurde, sparte Zeit, um zuvor drei Wochen zu proben. RP Kahl hat jeden der elf Gesänge mit den Kameras in einer Einstellung gedreht, jede Szene wurde durchgespielt.
Dieser Film ist weder illustrativ, noch einfach verfilmtes Theater. Neben die Worte treten die Gesichter und Körper der Schauspieler. Und die Bilder in unserem Kopf.
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Eine Anatomie der Vernichtungsmaschine ist dies auch ein Film über die Gegenwart. Über die Leichtfertigkeit unseres Umgangs mit den Schrecken und Massakern unserer Zeit und über unsere Unfähigkeit zu trauern, die auch eine Unfähigkeit ist, aus Auschwitz für die Zukunft zu lernen.
Das Nachleben der Nazi-Vernichtungsmaschine ist die Entschuldungs- und Entschuldigungsmaschine.
Dieser Film ist auch das Porträt einer Generation: Der Verweigerungsgeneration der Nachkriegszeit. Männer, die zumindest äußerlich von keinem Zweifel angekratzt sind, sondern selbstbewusst in betont lässiger Haltung im Gerichtssaal sitzen, mit dunkel getönten Sonnenbrillen, die den Blick in ihre Augen unmöglich machen. Männer, die nie sprachlos sind, und nie um eine Erklärung verlegen, die auf alles eine Antwort haben:
»Das war Befehl, wir konnten nichts dagegen tun...«
»Ich habe nur getan was ich tun musste...«
»Ich hatte nur Schreibarbeiten auszuführen...«
»Ich habe in keinem Falle an Tötungen teilgenommen.«
»Das sind Erfindungen!«
»Ich war gegen diese ganze Angelegenheit...«
»Das weiß ich nicht mehr...«
»Menschen brennen nicht...«
»Hier wird meine Ehre angegriffen...«
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Wie erzählt man von Auschwitz? Distanz ist wichtig. Schauspieler können nicht »nachfühlen«, wie es ist, nach Auschwitz zu gehen. Das Sujet Auschwitz widerlegt alle Vorstellungen des »method acting«, der Vorstellung, dass man »hineinkriechen« könnte in so eine Rolle, sich darin einfühlen könnte, in Auschwitz zu sein.
Dieser Film erzählt uns damit auch etwas über das Kino. Er entfaltet die Dialektik von Zeigen und Sehen und vom Nicht-Zeigen und Sehen. Das Ergebnis ist ein Zeigen, ohne abzulenken. Kahls Die Ermittlung führt vor, dass der Film vor dem inneren Auge der ist, den wir sehen. Er führt vor, dass Kino nicht notwendig Emotion und Gefühlsintensität ist, sondern auch Analyse und Gedankenschärfe. Und er zeigt, dass am besten beides zusammenfließt.
Darum ist dies kein Film, der etwas illustriert. Kein Film, der gut ist, weil er wichtig ist, weil er ein wichtiges Thema hat, und für die Gegenwart bedeutend ist. Umgekehrt: Ein Film, der keine Erklärungen liefert, keine »relevanten Themen« abarbeitet.
Dieser Film reißt einen mit, und lässt ganz viele Bilder im Kopf entstehen. Es bleibt immer sehr würdevoll. Ein hochriskanter, sehr mutiger Film – dass das überhaupt finanziert und dann so realisiert wurde, spricht sehr für das deutsche Fernsehen und den deutschen Film. Die Ermittlung ist bis heute der beste deutsche Film des Jahres.