D/Ö 2003 · 96 min. · FSK: ab 12 Regie: RP Kahl, Tony Baillargeat, Xawery Zulawski, Benjamin Quabeck u.a. Kamera: Stefan Wagner Darsteller: Viviane Bartsch, Viviana Kammel, Mark Schloten, Ellen ten Damme u.a. |
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Lea Bosco |
Eine gutgelaunte junge Frau tankt ihr Auto auf, irgendwo im Umland von Berlin. Sie nimmt einen Tramper mit, der auch in die Stadt will. Beide kommen ins Gespräch. Und was ganz fröhlich, normal, mit Smalltalk beginnt, entwickelt sich zu einem Psychotrip. Denn schnell ist klar: Der Typ kennt die junge Frau bereits, weiß Dinge über ihr Leben, an die sie sich nicht mehr erinnert, oder erinnern will. »Ich lüge nicht« betont er immer wieder. »Lügt nicht jeder, selbst wenn er es gar nicht weiß?« hatte sie zuvor noch kokett gefragt. Heike Makatsch ist das Mädchen, und lange hat man sie nicht mehr so gut, so präzise auf den Punkt spielen gesehen, wie hier in diesen zehn Minuten. Ein eindringlicher Auftritt. Und eine tolle Inszenierungsleistung von Regisseur Benjamin Quabeck, der hier mit dem Kurzfilm »Ich hab Musik dabei«, seinem Beitrag zu dem Episodenfilm Europe – 99euro-films 2 seinen bisher besten Film überhaupt gedreht hat: Befreit von allem prätentiösem Ballast, allen Pflichtübungen, aufs Wesentliche konzentriert.
Oder »King of the Dwarfs«, die Geschichte von Tomek und Zusia, die schwanger ist. Ein verträumter Tag in Warschau, verfilmt von Xawery Zulawski, inspiriert von einer Shortstory Philip K. Dicks, womit man schon weiß, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Tomek will einen Job suchen, trifft auf Freunde und landet ganz woanders. Wie das so ist, in Warschau vielleicht noch etwas mehr, als in Berlin. Auch dieser Film, vielleicht der beste, jedenfalls der auffälligste unter allen neun Beiträgen, handelt von Wahrheit und Lüge, vom Märchenerzählen, und dem, was hinter dem Märchenhaften lauert, wovor man Angst haben muss, zugleich bietet er ein perfektes Portrait der polnischen Gegenwartsgesellschaft.
Schließlich »Las Olas« vom hochbegabten spanischen Newcomer Nacho Cerda. Wieder ganz anders: Eine geheimnisvolle Etüde in strengem Schwarz-Weiß. Irgendwo in Barcelona steht ein Mädchen vor dem Spiegel. Schaut sich an. Duscht. Reinigt sich. Schminkt sich. Denkt an ihr Leben, ihre Lieben, an das was ihr wichtig war. Zieht sich an für einen besonderen Abend. Eine minimalistische Psychostudie, die ganz um das Innenleben einer Person kreist, deren Selbstgespräch die Bilder aus dem Off begleitet. Und dann kommen die Wellen...
Als sich 12 deutsche Regisseure vor zwei Jahren auf dem Filmfest Oldenburg auf Veranlassung des Produzenten Torsten Neumann (als »künstlerischer Leiter« fungiert RP Kahl) zu dem Episodenfilm 99 Euro Films zusammenfanden, war dies ein Zeichen spontaner Intelligenz inmitten einer, für junge Filmemacher mit noch nicht durch Konventionen gestutzten Einfällen, uninspirierenden Landschaft. Nur 99 Euro sollte pro digitalem Kurzfilm ausgegeben werden, vor allem aber sollte alles frei von falschen Einflussnahmen entstehen – fertig war einer der ungewöhnlichsten deutschen Filme der letzten Jahre, der beim Publikum, die Verleihverhältnisse mitberücksichtigt, weitaus besser ankam als anderes. Das Konzept war starr, aber gut, und das Resultat machte Lust auf mehr.
Jetzt wurde das Projekt auf europäischer Ebene fortgesetzt, vielleicht um das EU-Konvent moralisch zu unterstützen, vielleicht um ein Zeichen gegen die Allmacht Hollywoods zu setzen, vielleicht auch nur, um zu zeigen, dass es auf europäischer Ebene auch junge, hochbegabte Filmautoren gibt, deren Potential ähnlich ungenutzt ist, wie auf deutscher.
Der Rahmen, der diese in jeder Hinsicht buntgemischte Regie-Außenseiterbande und ihre acht Filme zusammenführt, wird von der Episode RP Kahls gebildet: Ein elfenhaftes junges Mädchen reist durch Europa, leitet immer die Orte ein, in denen die nächste Geschichte spielt. Mal flaniert sie auf einem Friedhof, mal von einem Hund begleitet, mal fährt sie Kutsche, mal schwimmt sie durch unbekannte Gewässer – ein Medium, das die Kurzfilme zusammenhält. Und das fleischgewordene Geheimnis des Films.
Schauplätze sind acht europäische Metropolen. Europe – 99euro-films 2 ist auch eine Erforschung der Gemeinsamkeiten zwischen den Ländern Europas und die – zugegeben: nicht ganz überraschende – Entdeckung, dass diese Gemeinsamkeiten in den großen Städten liegen, in der Urbanität, die den Horizont erweitert, und die Provinzialität, auch der Köpfe, hinter sich lässt.
Meistens stehen, das liegt in der Dramaturgie von Kurzfilmen, nur wenige Figuren im Zentrum. Sie sind eher jung. Oft geht es um flüchtige Begegnungen, um das Spiel mit Erinnerungen und Erwartungen und um das, was man daraus macht. Etwa die Hauptfigur in Stephan Wagners Episode »Alte Wäsche«: Ein Deutscher in Wien, das kann nicht gut gehen, erst recht nicht, wenn er aus Berlin kommt. Bald hat er einen Unfall und am Schluß des Film kann er ganz sicher sein, dass er hier nicht hingehört.
Diesem wie vielen anderen der Filme würde man gerne viel länger zuschauen. Einige könnte man sich als lange Spielfilme vorstellen. Nicht alle sind gleich stark. Besonders der verquatschte Beitrag des französischen Regisseurs Tony Baillargeat liegt klar unter dem Niveau der anderen Filme. Und der Belgier Harry Kümmel hat sich mit seiner »Story of a Metamorphosis« nicht besonders elegant um seine Aufgabe herumgestohlen. Aber dafür gibt es noch den Film von Richard Stanley und das Regiedebüt der niederländischen Schauspielerin Ellen ten Damme, auch dies beides kleine Film-Forschungen und Experimente am lebendigen Objekt – so wie das ganze Werk ein Wechsel auf die Zukunft und ein Stück intellektueller Schmuggelware ist: Das vereinte Europa, künstlerisch zumindest und avant la lettres.