Japan 2023 · 107 min. · FSK: ab 12 Regie: Ryusuke Hamaguchi Drehbuch: Ryusuke Hamaguchi Kamera: Yoshio Kitagawa Darsteller: Hitoshi Omika, Ryo Nishikawa, Ryûji Kosaka, Ayaka Shibutani u.a. |
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Im Wald verloren gehen | ||
(Foto: Pandora) |
Es dauert Minuten, bis das erste Wort fällt. Zunächst tauchen wir ein in das Universum. Der Wald, die Bäume, die Äste, Nadelkronen, dazwischen der Himmel. Dissonant, dann träumerisch schiebt sich die sphärische Filmmusik von Eiko Ishabashi in die Fahrt von Yoshio Kitagawas Kamera hinein, die minutenlang nur den Wald, die Bäume, die Äste, die Nadelkronen, dazwischen den Himmel vermisst. Wald, Bäume, Äste, Nadelkronen, Himmel. Anschwellende Dissonanz, träumende Harmonien, Kamerafahrt: Willkommen im Universum von Ryusuke Hamaguchi.
Der japanische Regisseur hatte mit Drive My Car den Oscar als Bester internationaler Film gewonnen. Wie in der elegischen Tschechow-Variation finden sich in dem in Venedig mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichneten Evil Does Not Exist wieder melancholische Figuren, ein alleinerziehender Vater mit seiner Tochter, und eine metaphysisch wirkende Natur, die auf die größeren existentiellen Fragestellungen abhebt. »Evil does not exist«, das Böse gibt es nicht, das beinhaltet auch die Fragen nach Moral und Schuld. Und wie aus der Unschuld Schuld werden kann, ohne dass das Böse als dunkle Kraft wirken würde.
In der langen Eingangssequenz zeigt uns Hamaguchi die Menschen in einer nahezu wilden Natur, von den wenigen menschlichen Eingriffen abgesehen: gedämpft sind Holzfäller zu hören, in der Ferne die Schüsse von Jägern, aus dem rauschenden Bach entnimmt der schweigsame Takumi kanisterweise Wasser. Auf dem Weg zum Auto entdeckt er wilden Wasabi, das er pflückt, als Beigabe für die traditionellen Sabo- und Udon-Nudeln, die im Bistro angeboten werden, zu dem er das unberührte Wasser bringt.
Der Mensch ist harmonisch in die Natur gebettet, erzählt uns Hamaguchi, aber es ist ihr schweres Schicksal und ihre Verletztheit, die sie aufmerksam und empfänglich macht für die Schönheit und die Wunder der Natur. Ein verendetes Reh oder vielmehr das Gerippe, das von ihm übriggeblieben ist, legt sich als dunkles Foreshadowing über die märchenhafte Landschaft. Der zugefrorene See mit einer kreisrunden Schmelze ist Tränke für die Tiere des Waldes, die Öffnung im Eis wird im weiteren den Wechsel der Jahreszeit ankündigen. Im Schnee findet Takumi die Feder eines Fasans, sorgfältig wickelt er sie in ein Tuch und bringt sie einem Dorfbewohner mit, der sie für sein Cembalo brauchen kann. Takumi geht mit seiner Tochter zurück nach Hause, er ist allein für Hana da, es gibt keine Mutter mehr. Hitoshi Omika, der Takumi spielt, und die zehnjährige Ryo Nishikawa sind zum ersten Mal vor der Kamera zu sehen. Sie sind auch als Schauspieler Inkarnationen der Unberührtheit.
Das alles mag esoterisch klingen, aber wie alle stillen Gewässer gründet auch dieser Film ziemlich tief. Den Gegensatz für die melancholische Ruhe bringt bald die herannahende Zivilisation in Gestalt der »Playmode«-Agentur. Diese plant ein einzigartiges Resort für die hochgradig gestressten Tokioter, die mitten im Wald »Glamping« machen sollen. Hinter dem Kofferwort aus Glamour und Camping steht ein Urlaub mitten im Wald, ohne aber auf den gewohnten Komfort verzichten zu müssen, wird der Dorfgemeinschaft erläutert. Es gibt auch einen Zaun, einen Wächter, Toiletten. Wohin das Schmutzwasser abgeleitet werde? Der Konflikt mit den Einheimischen ist vorprogrammiert. Das hier ist aber kein konservierend-zivilisationskritischer Umweltfilm, auch wenn er so beginnt. Eher ist Evil Does Not Exist ein sehr langsamer, unaufgeregt und bedächtig erzählter Western. Beziehungsweise: beides verschränkt sich, die Indigenen wenden sich gegen die naturblinden Siedler. Man sollte sich, siehe der Titel, immer auf das Schlimmste gefasst machen. Und das meint auch Kritik an der neuen Naturromantik, am Siedlertum der Moderne, an der Sehnsucht nach dem einfachen Leben. Im Grunde gehen alle, die sich von der Naturerzählung berühren lassen, Hamaguchi in die Falle.
Denn die Naturharmonie ist nur von kurzer Dauer. Mit dem Einbruch der Zivilisation in die unberührte Natur bricht auch die Moderne der New Economy herein. Davon erzählt Hamaguchi ohne Zynismus, eher mit viel Humanismus, von der Einsamkeit der Städter, von ihrem Entfremdetsein in einer Arbeitswelt, von der Sehnsucht nach einem guten Leben. Der Beschleunigungskritiker Hartmut Rosa schreibt: »Insgesamt führt das zu einer Kultur, in der das ultimative Ziel der Lebensführung darin besteht, seine Ressourcenlage zu optimieren.« Die »Ressourcenfixierung« habe sich zum »Inbegriff des guten Lebens verselbständigt«. Dazu gehöre auch, gesünder, attraktiver, fitter zu werden. Oder eben die Natur zu erleben, wie hier im Film, ohne je hinter der Abgrenzung des Resorts wirklich mit ihr in Kontakt treten zu müssen. »Aber wann malen, wann leben wir?«, fragt Hartmut Rosa.
Evil Does Not Exist ist ein Film über dieses Malen als Inbegriff der sinnstiftenden Weltaneignung. In narrativen Zeitkapseln arbeitet Hamaguchi gegen den konsumierbaren Plot an, entdramatisiert, entschleunigt und verrätselt seine parabelhafte Erzählung, kehrt immer wieder zu Momenten der Vergangenheit zurück oder dehnt die erzählte Zeit, indem er einfach nichts erzählt. Indem er die Natur dem Blick der Kamera überlässt, das Ohr einfach nur hören lässt, die Musik, das Rauschen der Natur. Dann doch wieder: Ein Film wie Waldbaden für die Seele.