Brasilien/Deutschland 2016 · 105 min. Regie: Hank Levine Drehbuch: Hank Levine Kamera: Yuri Salvador, Klaus Betzl Schnitt: Katja Dringenberg |
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Über ein Leben im Wartezustand |
»Wartenlassen gehört in vielen Fällen zu den ausgesuchtesten seelischen Martern. … Es liegt so etwas geheim Fürchterliches im Warten, dass stets, wenn jemand bewusst auf etwas warten muss oder irgend eines kommenden Ereignisses gewärtig ist, bei seelisch empfindlichen Naturen selbst das harmloseste Warten zur Qual wird. Nichts ist grausamer und verstößt mehr gegen den guten Ton, ja, ich möchte sagen, nichts verkündet so beredt niedrige Gesinnung, als andere Menschen durch Wartenlassen zu demütigen.«
Alexander von Gleichen-Russwurm: »Der gute Ton«
Es sind atemberaubende Bilder, mit denen der Film eröffnet: Hunderte von Menschen in einer Wüste. Sie rufen Worte wie »Unabhängigkeit« und »Selbstbestimmung«. Dann formen sie auf dem gelben Sand aus ihren Körpern riesige Buchstaben: »Sahara Libre«, »freie Sahara«. Dazu muss man jetzt wissen, dass einige Stämme der Westsahara seit Jahrzehnten um einen eigenen Staat kämpfen, dass aber das Verlangen nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Sahara durchaus umstritten sind. Einer von vielen Konflikten unserer Welt, der Fluchtbewegungen entstehen lässt.
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»Ich weiß nicht, wohin ich gehe. Ich weiß, dass ich noch nicht angekommen bin. Die Lager. Die Flucht. Immer Warten. Immer weiterziehen. Ein Leben im Wartezustand. Die fremden Sprachen. Das fremde Leid.
Alles habe ich hinter mir gelassen.
Die Erinnerung an Zeit der Hoffnung. Den Duft der Heimat und mein Gefühl für mich selbst.
Angst, vergessen zu werden. Angst, anderen Angst zu machen. Wie weit, wie entfernt ich bin von zuhause.«
Unmittelbar darauf folgt dieser Text. Die Erzählerstimme der deutschen Schauspielerin Jule Böwe passt hervorragend: Rau, offen, dabei verwundbar spricht sie den oft literarischen Text des Films.
Dann wechselt die Szene zum ersten Mal wie noch oft in den folgenden hundert Minuten: Brasilien. Eine Frau macht Schießübungen. Den Pulvergeruch kenne sie von ihrer Heimat, sagt sie. Und dann berichtet die Syrerin von ihrer Flucht aus dem Krieg, die sie über die Türkei bis nach Brasilien führte. Das Schießen auf dem Schießstand eines Sportvereins schafft ihr Erleichterung, entlädt den inneren Druck.
Weiter geht es nach keinem plausibel schlüssigen Muster in den Sudan, nach Burma, Kuba, Algerien, Kongo, Haiti, sowie immer wieder zu den beiden Herkunftsländern dieses Films, nach Brasilien und Deutschland.
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Exodus – Der weite Weg stammt vom deutschen Regisseur Hank Levine. Sein Dokumentarfilm wirkt wie ein Kaleidoskop des globalen Phänomens, das Flucht schon immer war. Es ist keine neue Erkenntnis, dass Menschen vor Krieg, Katastrophen und Not fliehen und woanders ihr Glück versuchen. Es ist ein Kaleidoskop des Schreckens.
Levine hat für seinen Film über zwei Jahre lang sieben Menschen aus vier Kontinenten begleitet: Er zeigt vor allem die Bewegung an sich, einen Schwebezustand zwischen Herkunft, die nicht immer Heimat ist, und Ziel, das man nicht erreicht, oft nicht kennt. Es gibt Stationen, aber keinen Endpunkt.
Dieser Schwebezustand ist prekär und wirft wichtige, sehr grundsätzliche Fragen auf, die die Selbstverständlichkeiten der Flüchtlingspolitik, auch des Westens, infrage stellen.
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»Was ist ein Leben ohne das Recht, sich frei zu bewegen? Wer hat es verdient, in Armut zu sterben?
Wer hat das Recht, in Frieden zu leben?
Wer hat das Recht, in Sicherheit zu leben?
Wer hat es verdient, in Angst zu sterben?
Wieviel Unrecht müssen Menschen ertragen, bevor sie sich erheben und zurückschlagen?
Krieg hinter mir, Mauern vor mir. Wo finde ich Ruhe?«
Solche Meditationen sind zwar gelegentlich etwas zu bedeutungsschwanger, aber immer anregend, und sie gehören zu den Stärken des Films. Die andere große Stärke liegt in der Autonomie der Bilder, ihrer Eigendynamik. Denn diese Bilder zeigen fast immer mehr, als sie zeigen sollen. Man muss nur genau hinsehen, auch an die Ränder und Nebenseiten dieses Films.
Die Schwächen liegen im pathetisch auftrumpfenden Titel, in der völligen Humorfreiheit des Films – aber Ironie und Witz sind auch bei ernsten Themen nicht verboten – und vor allem darin, dass sich Exodus in der Masse seiner Figuren und Schauplätze verliert. Ein Hauch der Unverbindlichkeit eines touristischen Blicks zieht sich durch den Film.
Die Tatsache, dass den schönen, ästhetisierten Bildern dieses Films keine hässlichen, unangenehmen gegenübergestellt werden, den Intelligenten und Liebenswerten keine Dummen und Unsympathischen, dass der Film alle Erfahrungen des Anderen, Irritierenden glattbügelt oder unter den Tisch fallen lässt, schwächt ihn und seine Aussagen. Es ist »preaching to the converted«, vor allem aber erzählt diese Haltung unter der Hand mehr von den Lebenslügen der liberalen Intelligenz, als von den Problemen der Flüchtigen (und ihrer Gastgeber), die sowieso keine Probleme zu haben scheinen. Oder sie dürfen keine haben.
Trotzdem – aber auch deswegen – ist Exodus ein wichtiger und sehenswerter Film.