USA/GB 1999 · 155 min. · FSK: ab 16 Regie: Stanley Kubrick Drehbuch: Stanley Kubrick Kamera: Larry Smith Darsteller: Tom Cruise, Nicole Kidman, Madison Egniton, Jackie Sawiris u.a. |
»...und sie redeten von den geheimen Bezirken, nach denen sie kaum Sehnsucht verspürten und wohin der unfaßbare Wind des Schicksals sie doch einmal, und wär’s auch nur im Traum, verschlagen könnte.«
Im Badezimmer steht eine junge Frau und legt ihr Kleid ab. Für einen Augenblick ist sie nackt. Dieser Auftakt ist ein Signal: es geht nach innen, die äußere Haut wird abgestreift, ungeschützt und verletzbar präsentieren sich die Menschen.
Dann sieht man die Frau wieder angezogen, mit ihrem Mann vor dem Spiegel. Beide legen letzte Hand an ihr Äußeres, ziehen ihre gesellschaftlichen Masken auf und verkleiden sich für ein großes Fest. In wenigen Minuten, in weichen, fließenen, zum
Takt wohliger Walzerklänge schwebenden Kamerabewegungen führt uns Stanley Kubrick ein in die Welt seiner Hauptfiguren: Bill (Tom Cruise) und Alice (Nicole Kidman) sind ein Paar, dem es gut geht. Nichts scheint ihr Dasein irritieren zu können, ihr Leben inmitten der reichen »happy few« im New York am Ende unseres Jahrhunderts. Einen Abend lang begleiten wir beide, beobachten ihr gekonntes Spiel auf dem sozialen Parkett, die kleinen Versuchungen und Geheimnisse und die Liebe, die
sie verbindet.
Am nächsten Abend wird ein harmlos beginnendes Gespräch alles verändern, wird Alice ihren Gatten auslachen, und seine Illusion von Liebe und Treue ein für allemal ent-täuschen. In wenigen Minuten wird diese Welt, in der alles zum Besten bestellt war, aus den Fugen geraten, und nichts mehr so sein, wie es war. Dieser bravuröse, minutenlange Auftritt von Nicole Kidman ist der entscheidende und intensivste Moment in Eyes Wide Shut. Hier nimmt das Weitere seinen Anfang, nun werden wir Zeugen einer Reise in die Nacht, in der für die Protagonisten die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen, und sie gezwungen sind, ihre – gesellschaftlichen wie privaten – Masken abzulegen, und sich selbst in die Augen zu sehen.
Der letzte Film des im März 70jährig verstorbenen Stanley Kubrick ist vieles auf einmal. Zunächst eine Literaturverfilmung, freilich eine sehr ungewöhnliche. Denn ihre Vorlage, Arthur Schnitzlers im Wien der Jahrhundertwende angesiedelte »Traumnovelle« (1925), ist in vielem präziser, damit aber auch eindimensionaler, als der Film. Wo Schnitzler Motive nennt, zeigt Kubrick Verhalten. Eyes Wide Shut ist dadurch paradoxerweise in manchem
'literarischer' als der Text. Er vermeidet, was man Literaturverfilmungen oft zum Vorwurf macht: Alles zu zeigen, nichts offenzulassen, zu bebildern und zu klären, was die Worte nur andeuten. Hier deuten Bilder an, was dort die Worte klären, und geben Schnitzlers Geschichte eine ungeahnte Mehrdeutigkeit.
Bei Kubrick ist es bis zum Ende offen, was an der Grenzüberschreitung, die sein Protagonist Bill (Tom Cruse, mit passend bubihaft-unschuldiger Ausstrahlung) nach dem
erschütternden Gespräch erfährt, real ist oder geträumt. Klar ist nur, dass für ihn, der wie Adam vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, die Welt buchstäblich eine andere geworden ist, voll von Versuchung, Albtraum und Verschwörung.
Weil hinter Privatem auch allgemeine Zustände aufblitzen, ist dieses Portrait einer Wahrnehmungsstörung auch Milieuanalyse und moralische Anklage der Dekadenz der (Nur-)Reichen. Glaubwürdig paralellisiert Kubrick Schnitzlers Fin de Siècle mit dem unsrigen. Wer die Story heute für unglaubwürdig hält, weil sich doch manches geändert habe, wer manches für Altmännerphantasie hält, übersieht aber, daß sich Eyes Wide Shut doch zuallerst in imaginären Räumen abspielt, und in den zeitlosen Abgründen der Seele.
Ob nun Vermächtnis oder Meisterwerk – man braucht derartige Superlative gar nicht, um ungeachtetet geringfügiger Einwände die Qualität dieses Films zu erfassen. So genau und gefühlvoll wird selten erzählt. Und dabei gibt Kubrick auch eine Antwort, was übrigbleibt, wenn alle Masken fallen, wenn alle Ideologien, Lügen, aber eben auch produktiven Scheingeflechte und Lebenslügen zerstört sind. Was für letzte Worte eines der ganz großen Filmemacher des Jahrhunderts, der wie wenige ein Philosoph war, kompromißlos und konsequent, gnadenlos, aber nicht aus persönlicher Eitelkeit versucht hat, den großen Fragen nicht auszuweichen sondern auf den Grund zu gehen: »Laß uns ficken!«
Dunkelgrünes Wasser unbewegt
Es nimmt mich mit.
In deinen fernen Blick versunken ertrinke ich woran wir schweigen.
Kein Ziel ist ferner als das unsere
Nichts schöner als was ungeschehen blieb.
Es treibt mich fort
Und doch der Trieb
In deine fernen Augen -zwei Taifunen gleich-
Zurückzusinken.
Ich hatte einen Traum letzte Nacht. Also eigentlich waren es mehrere Träume. Und ich kann mich noch erstaunlich gut an sie erinnern. Aber wer weiß für wie lange? Träume sind flüchtige Gebilde, Filme im Kopf, deren Bilder und Handlung sich mit der Zeit verflüchtigen, so dachte ich mir als ich an meinem Schreibtisch saß und dem Rauch einer gerade entzündeten Kerze zusah wie er merkwürdige Figuren in die Luft zeichnete. Hier im Warner Bros. Executive Office in Hollywood arbeiten wir nur
mit Kerzenlicht.
»...hallo, hörst du mir noch zu?« Eine Stimme mit Brooklyn-Akzent aus dem Telefonhörer.
»Entschuldige, Stanley, ich mußte gerade an einen Traum denken, den ich letzte Nacht hatte.«
»Das trifft sich ja gut, denn hör´mal, Terry, ich werde einen neuen Film drehen und der hat auch mit Träumen zu tun. Es geht darin um ein Ehepaar.«
»Äh, Stanley, das ist sehr interessant. Und es handelt sich um einen Science-Fiction Film?«
»Nein, den mache ich nachdem ich diesen
Film gedreht habe. Das wird höchstens 16 Wochen dauern und dann mache ich den Science-Fiction Film über künstliche Intelligenz.«
»Meinst du daß das gut ist? Ich habe gehört Steven Spielberg plant auch einen Science-Fiction Film zu einem ähnlichen Thema.«
»Steven wird diesen Film nur über meine Leiche machen, das garantiere ich. Aber zurück zum Thema. Es geht um ein Paar, das sich in einer Ehekrise befindet.«
»Ähm, nun, das klingt... das klingt gut. Und er haßt seine Frau und sein
Kind hat das zweite Gesicht und...«
»Nein, das war Shining. Dieser Film spielt in New York. Die Geschichte stammt von Arthur Schnitzler.«
»Stammt der nicht aus Berlin?«
»Aus Wien, aber der Film spielt in New York.«
»Und das Ehepaar hat eine Krise?«
»Ja, und sie gesteht ihm eines abends
nach einer Ballnacht daß sie in Gedanken
für eine Nacht
für einen Tag
jemanden
liebte
der ihr nur einen Blick zuwarf
der kein Wort sprach
und doch
von diesem Augenblick an
immer bei ihr war
und die Gedanken dieser Frau
kehren jetzt wieder
und werden
wie ein Spiegelbild
zu denen ihres Mannes.«
»Das klingt sehr poetisch, Stanley.«
»Ja, und ihr Mann begibt sich daraufhin auf eine nächtliche Odyssee, wacht am Bett eines Toten dessen Tochter ihn verführen will, spricht mit einer Hure, besucht einen befreundeten Pianisten, kauft sich ein
Kostüm, trifft ein Nymphchen, geht zu einer Orgie auf der er fast umgebracht aber von einer maskierten Frau gerettet wird; dann, am nächsten Tag versucht er die Ereignisse dieser Nacht zu verstehen, er kommt einem möglichen Mord auf die Spur, stellt fest, daß sein Freund entführt wurde, die Hure todkrank ist und das Nymphchen immer noch zur Verfügung steht. Schließlich gibt ihm ein Bekannter für alles eine Erklärung und die Eheleute finden wieder zueinander.«
»Wow, das klingt gut, das
klingt nach viel viel Sex. Es geht doch um Sex?«
»Ja, um Sex im Kopf, und ich fürchte für die amerikanischen Zuschauer noch mehr als für die europäischen. Der Film soll Eyes Wide Shut heißen. Tom Cruise und Nicole Kidman spielen die Hauptrollen.«
»Und Nicole Kidman sieht man nackt?«
»Ja, vor einem Spiegel.«
»Und Tom Cruise ist kein Schriftsteller, der seine Familie umbringen will?«
»Nein, er ist Arzt, sie eine Galeristin. Kann ich jetzt den Film
machen?«
»16 Wochen Drehzeit, hmmm...?«
»16 Wochen, vielleicht auch länger.«
»Wieviel länger?«
»Hör zu Bob, ich kann mir nicht vorstellen daß die ganze Sache drei Jahre dauert. Jetzt stell dir doch mal das Plakat vor: in dicken Lettern steht da: CRUISE KIDMAN KUBRICK. Also: kann ich den Film jetzt machen?«
»Ja ... ich denke das klingt gut... ja, go ahead.«
»Sehr gut. Ich ruf dich wieder an wenn die Dreharbeiten zu Ende sind.«
»In 16 Wochen.«
»In 16
Wochen.«
»...ach, und Stanley...?«
»Ja?«
»Ich mochte Shining. Kannst du nicht eine wenig von Shining in den Film einbringen. Eine Dialogzeile? Oder das Licht? Oder eine Ballszene?«
»Ich werde sehen was ich tun kann.« und er legt auf. Jetzt muß ich mir erst mal die Beine vertreten. Vielleicht
bummle ich noch ein wenig durch die abendliche Stadt. Ich sage nur noch schnell meiner Frau bescheid. Sie ist gleich nebenan und macht mit unserem Kind Schularbeiten. Da sitzen sie.
Als ich den Raum betreten will knalle ich voll gegen das Glas. Ihre Simme hinter mir.
»Liebling, was ist denn passiert? Was schaust du so...«
Ich könnte schwören, daß ich gegen einen Spiegel gelaufen bin, zumal ich auch ihre Stimme hinter mir hören kann. Doch jetzt sehe ich sie auf mich zukommen und sie
nimmt meine Hand und vielleicht ist da gar kein Spiegel, denn sie tritt aus dem Zimmer heraus zu mir auf den Gang in dem ich mich befinde. Meine Nase blutet.
Mir scheint es ist gefährlich auf meine Frau zuzugehen. Besser sie kommt zu mir. Heute. Und morgen. Für immer
Und immer...
»...und immer wieder schreiben alle Zeitungen, daß mich meine Frau an die Wand spielt und ich vollkommen unbeweglich, aber gut frisiert, herumstehe. Und im Film hat sie Sex mit einem anderen. Ich habe
nie Sex. Ich darf immer nur schauen. Aber nie Sex. Ich bin deprimiert. Was soll ich nur tun, Herr Dr. Freud?«
Ich nehme einen Zug aus meiner Zigarre und schaue dem Rauch zu, wie er merkwürdige Figuren in die Luft zeichnet. Herr Cruise liegt in seinem schwarzen Anzug, der seinen Körper nur umrißhaft beschreibt vor mir auf der Couch. Er ist schon ein erstaunlicher Fall. Eigentlich sollte ich Herrn Schnitzler von diesem Mann erzählen. Ich bin mir sicher er könnte ihn für eine seiner
Novellen verwenden.
Herr Cruise, von dem mir im übrigen auffiel wie klein er ist, als meine Assisstentin Mandy, die gerne hochhackige Schuhe trägt, ihn in meine Praxis geleitete, leidet aufgrund einer leichten Schizophrenie unbewußt darunter daß er so sehr dem Helden in jenem ungarischen Film »Les Yeux Grands Fermés« von Victor Ziegler gleicht, einem Regisseur, der übrigens leidenschaftlich gern in seinen eigenen Filmen auftritt und scheinbare Erklärungen für das Geschehen
formuliert.
Dieser William Harford, den mein Patient im Film darstellt, muß eines Nachts entdecken, daß es eine Welt des Erlebens, des Gefühls, der Lust, der Reize gibt, die jenseits seines Vorstellungskraft liegt. Seine Frau kennt diese Welt. Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß die Gattin dieses Wiliam Alice heißt, gibt es doch ein Buch von Lewis Carrol, welches »Alice hinter den Spiegeln« zum Titel hat; und sehen wir nicht auf dem Plakat für Übersee und auch in der Vorschau zu
diesem Lichtspiel das Ehepaar in einem Spiegel?
William wird sich bewußt, daß es einen imaginären Spiegel, ein Seelenprisma gibt, welches die ihm scheinbar so vertraute Welt bricht, verändert in eine andere verwandelt. Und er sieht seine Frau mit einem Male nach einem nächtlichen Gespräch an diese Gegenwelt verloren. Um zu Alice, die er doch über alles liebt, gelangen zu können, muß er einen Weg finden durch diesen Spiegel zu schreiten. Die Tragik dieses Mannes ist, daß ihm dies nicht
gelingt. Er kann das Glas befühlen, den Rahmen ertasten, sogar um den Spiegel herumgehen. Aber er selbst bleibt stets Teil einer normalen Welt deren Abbild er nur durch Hinsehen, nicht aber durch Erleben wahrnehmen kann: Selbst seine voyeuristischen Abenteuer auf der Orgie, die ein seltsames Echo in einem Traum seiner Frau finden, erscheinen in deren Imagination aufwühlender, verzehrender, als sein tatsächliches Erleben.
In das Spiegelbild einzutauchen bleibt ihm verwehrt,
vielleicht gerade deshalb, weil er das Unbekannte und Fremde nicht in seinem Inneren sucht sondern in der realen Welt für sich erfahrbar machen will.
Das die Eheleute Trennende kann auf diese Weise nicht überwunden werden, so wenig wie sich Bild und Spiegelbild vereinen können. Die Beziehung läßt sich nur retten, indem Alice aus dem Spiegel tritt, zurück in die harmlos nette Welt ihres Mannes. So findet denn die Versöhnung der beiden bezeichnenderweise in einem Spielzeugladen
zwischen Stofftigern und Barbiepuppen statt. Das Wilde, das Unbekannte, das Unberechenbare ist gezähmt, entzaubert, verniedlicht.
Bis zur nächsten Krise.
Bis Alice es nicht mehr aushält, und den verhangenen Spiegel wieder enthüllt, ihre Maske, die sie ihrem Mann zuliebe trägt, abnimmt.
Aber auch William ist ein Maskenträger. Sein Gesicht erscheint uns fast den ganzen Film über seltsam unbewegt; sobald er dem Fremden begegnet erstarrt es. Daß seine Maske aber im Laufe der
Handlung ganz subtile, schwer wahrnehmbare Risse bekommt, fällt dem Zuschauer beim ersten Sehen des Films angesichts der fulminanten Leistung seiner Gattin Frau Kidman kaum auf.
»Schauen Sie sich den Film noch ein einige Male an, Herr Cruise. Sie werden dann feststellen, wie gut sie zu der Rolle passen«, teile ich zum Ende der Sitzung mit und empfehle Ihm außerdem eine Bewegungstherapie bei meinem geschätzten Kollegen Woo.
Nachdem ich Herrn Cruise hinausgeleitet habe, teilt mir
meine Assisstentin Mandy mit daß Herr Torrance seine Termine abgesagt hat. Er müsse in Kürze eine Anstellung als Hausmeister antreten und habe daher zu wenig Zeit.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist 19 Uhr 20. Zeit zum Fernsehen.
Und da ist auch schon Nina Ruge mit Ihrer Boulevard Sendung »Leute heute« im ZDF und als Gast hat sie Sky Dumont eingeladen. Der hat in einem Film von Stanley Kubrick mitgespielt und ich freue mich schon, ihn, der darin so grandios unaufdringlich aufdringlich
einen Verführer alter Schule spielt, über den Film ein wenig plaudern zu hören. Aber nachdem er ein paar Atemstöße lang über die Dreharbeiten sprechen durfte, hält ihm Nina Ruge eine Boulevardzeitung unter die Nase und fragt wie das mit seiner Ehekrise sei. Dann kommen die Nachrichten
und ich merke
wie die Erinnerungen an meinen Traum verblassen
wie Bilder in einem fernen Spiegel
welcher meinen Blick nur noch
mit Mühe zurückzuwerfen vermag.