Deutschland 2017 · 102 min. · FSK: ab 6 Regie: Annekatrin Hendel Drehbuch: Annekatrin Hendel Kamera: Thomas Plenert, Martin Farkas Schnitt: Jörg Hauschild |
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Traum vom Sozialismus, Trauma Familie |
»Ein Taxi brachte uns nach Manhattan. Ich sah die Skyline. Ich war in New York...« – so geht er los, der Dokumentarfilm »Familie Brasch – Eine deutsche Geschichte« von Annekatrin Hendel. Mit einer Reise nach Amerika. Man hört die Stimme von Marion Brasch, Schriftstellerin und Journalistin. Im »Deutschen Haus« in New York liest sie aus ihrem Roman »Ab jetzt ist Ruhe – Roman einer fabelhaften Familie«: »Es gibt von jeder Familiengeschichte eine Version jedes Mitglieds dieser Familie. Und jedes Mitglied erzählt seine Version. Und ich erzähle meine Version.«
Hendels Film ist keine Verfilmung dieses Buches, aber er erzählt diese Geschichte. Sie ist traurig und schön. Es ist die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, aus Sicht einer sehr bürgerlichen, also gebildeten und kunstsinnigen Familie. Und es ist eine Geschichte der DDR, auch deren Fortleben nach 1989.
Man kennt die Namen: Bettina Wegner, die Liedermacherin, Katharina Thalbach und Ursula Andermatt, Schauspielerinnen, Christoph Hein, Robert und Florian Havemann, Schriftsteller.
Und natürlich alle Braschs: Horst Brasch, ein jüdischer Junge zur Nazizeit, mit dem Kindertransport nach England geschickt, Kommunist, später stellvertretender Kulturminister der DDR, FDJ-Vorsitzender, ein harter Mann und offensichtlich ein kalter Vater. Seine Frau Gerda Wenger, in Wien
aufgewachsen, ebenfalls jüdische Emigrantin, die gegen ihren Willen in die DDR gedrängt wurde. Und ihre vier Kinder: Thomas Brasch, der bekannte Schriftsteller, Filmregisseur und glamouröse Sprößling der Familie; der früh verstorbene DEFA-und Volksbühnen-Schauspieler Klaus Brasch; der Hörspielautor Peter Brasch; und die jüngste, Tochter Marion.
Familie Brasch ist ein hervorragender Film. Es geht um den Traum vom Sozialismus und um den Familienzwist, um die kaputten Strukturen in einer nach Außen perfekten Funktionärsfamilie. Denn an autoritärem Gehabe, einem Erbe von Kaiserreich und Nazi-Zeit standen die kommunistischen Väter und Onkel ihren Brüdern und Cousins im kapitalistischen Westen in nichts nach.
Vater Horst Brasch war ein leidenschaftlicher Antifaschist
und DDR-Anhänger. Seine Ehe war schlecht, der geniale Sohn Thomas wurde zum Literaturstar und zugleich Aushängeschild der Opposition. 1976 folgte die Ausbürgerung aus der DDR.
»Er hat dann auch drauf geachtet, dass er bestimmen kann, wie diese Ausreise nach Biermann gewertet wird.« – so beschreibt Thomas Braschs damalige Lebensgefährtin Katharina Thalbach die gemeinsame Ausreise. Es war ein Familienleben, bei dem jeder sehr besorgt war, um das Bild, das er erzeugte, um die Meinung der Anderen, ein Familienleben, bei dem Privates immer auch öffentlich war.
Dies ist ein Film über Familienkonflikte, über die Macht der Ideologie, zu der der Verrat strukturell dazugehört. Ein faszinierendes Zeitpanorama zwischen Ost und West. Es handelt von Zerstörung, und von endlosen existenziellen Kämpfen zwischen Familienmitgliedern. Sie waren nicht selten tödlich. Überlebt hat die Schwester.
Annekatrin Hendel hat schon mehrere ostdeutsche Künstlerporträts gemacht – zusammengenommen bietet ihr Werk eine sehr gelungene, sensible und facettenreiche kulturelle Chronik der DDR. Die reale Familiensaga Familie Brasch hat Ansätze, ein ostdeutsches Pendant zu Heinrich Breloers Geschichte der Familie Mann zu bieten – auch dort ist es die jüngste Tochter, der Nachzügling, die als gute Beobachterin im Rückblick zur kritischen Historikerin wird.
Hendel mischt Archivmaterial und Interviews, sie verzichtet klugerweise auf mit Schauspielern inszenierte Spielszenen. Ein herausragender Dokumentarfilm, ein Film, den man sehen muss.