Indien/GB/USA 2006 · 116 min. · FSK: ab 12 Regie: Tarsem Singh Drehbuch: Dan Gilroy, Nico Soultanakis, Tarsem Singh Kamera: Colin Watkinson Darsteller: Catinca Untaru, Justine Waddell, Lee Pace, Kim Uylenbroek u.a. |
||
Gucken bis der Arzt kommt |
Nein, dies ist keine Verfilmung des gleichnamigen Buches von Albert Camus! Dafür entfaltet Tarsem Singhs The Fall Filmwelten von erlesener Pracht, von großer Originalität – als würde man in Malerei spazieren gehen können. Auf der einen Seite hat The Fall also alles, was man von Kino erhoffen kann, auch den nötigen Ernst. Aber mitunter sieht sein Film trotzdem aus, wie ein filmisches Coffee-Table-Book.
Es gibt neben den vielen berauschenden eine absolut atemberaubende Passage in Tarsem Singhs The Fall: Während aus dem Hintergrund der zweite Satz aus Beethovens Siebter Symphonie läuft, eine an und für sich schon kaum steigerbare Mischung aus Anmut, Pathos und Melancholie, schneidet der Regisseur zwei Dutzend Stuntszenen des Stummfilmkinos hintereinander. Unglaubliches sieht man da: Nicht allein die Hauswände, die über einen Mann einstürzen, genau so, dass dort, wo dieser steht, ein Fenster landet, er also unverletzt einfach weiter da steht; nicht allein die Reiter, die aus dem Stand auf ihr Pferd aufspringen, und dann rückwärts reiten, oder mitsamt Ross von einer Brücke hinunter in einen Fluss stürzen – sie alle hat man schon irgendwie irgendwo einmal gesehen. Oder man glaubt es zumindest. Aber was ist mit dem Auto, das in voller Fahrt mit einem Leiterwagen genau so kollidiert, dass auf seinem Dach eine Leiter mitgerissen wird, an deren beiden Enden je ein Mann sitzt? Sie stehen weit über die Seiten des Wagens hinaus. In rasender Fahrt nun wippen die zwei Männer auf der Leiter genau so, dass sie den auf beiden Seiten entgegenkommenden Autos gerade ausweichen. Millimeterarbeit der Stuntmen. Genau wie die Motorradfahrer, die in voller Geschwindigkeit direkt vor einem herandampfenden Zug die Schienen kreuzen. Wie die Menschen, die von einem Hochhaus zum anderen springen, von einem Flugzeug zum anderen, von einem Hochhaus auf einen Stahlträger, der mit dem Flaschenzug nach oben fährt. Diese kurze Passage, die letzte von The Fall, feiert die Stuntmen, die vor dem digitalen Zeitalter all die Sensationen garantierten, für die das Kino stand – und einer von ihnen wird eine Hauptfigur des Films sein –, sie feiern aber vor allem das Kino selbst, das Kino in seiner ursprünglichsten Form, die so beschränkt ist wie naiv begeisternd: Als Zirkus, als Karneval, als Akrobatik, die auch davon lebt, dass sie hoch lebensbedrohlich ist. Diese Ausschnitte fesseln bei all ihrer Beschränkung und Naivität, die natürlich auch eine wunderbare Unschuld bedeutet, nach der sich jeder zurücksehen wird, der sie sieht, sie fesseln nicht zuletzt durch ihre Dynamik. Diese ist unglaublich direkt: Hier werden die Menschen einerseits vollends zum Material, zur Kanonenkugel, die in das Rasen des Films hineingeschossen wird, doch andererseits entfaltet sich gerade darin auch der urhumane Freiheitstraum, sich von den Elementen und menschlichen Begrenzungen vollends lösen zu können. Genau in dieser Kombination von Dynamik, Materialismus und Freiheit liegt auch die tiefere Wahrheit des Futurismus, der vor 100 Jahren, genau zur Zeit dieser Stummfilmstunts, seine Geburtsstunde erlebte, und der heute gern nur zum Inbegriff all der Fehler und Abgründe der Moderne reduziert wird.
Großartig, dass The Fall diese Bilder noch einmal auf die große Leinwand bringt! Solche Szenen vermisst man im Kino der Gegenwart bitterlich. Zugleich aber widerlegen sie leider auch Tarsem Singhs Film selbst. Denn man vermisst ebensolche Szenen auch in seinem Kino, und vielleicht würde dieser ganze Film einen besseren Eindruck hinterlassen, wenn Singh sich mit dieser Szene nicht selbst die Grenzen aufzeigen würde.
Wieder einer dieser Filme, die auf der Berlinale (2007) in Nebenreihen versteckt wurden, obwohl sie eigentlich in den Wettbewerb gehört hätten.
Zuvor sah man surreale Seelenlandschaften, und Bilder, wie sie ihrerseits selten sind im Kino. Aber doch ganz anders, als die vorgenannten: The Fall, der zweite Spielfilm des Musikvideo- und Werbeclipregisseurs Tarsem Singh – nach dem schon bemerkenswerten, sehr originellen Debüt mit dem Jennifer-Lopez-jagt-Serienkiller-Trip The Cell – entfaltet Filmwelten von erlesener Pracht, von großer Originalität. Dies ist ein offenes Bekenntnis zur Schaulust – und insofern sehr sympathisch.
Dabei funktionieren Singhs überbordende Bilder in erster Linie dann doch als filmisches Kuriositätenkabinett. Sie erzählen eine Geschichte, die man sich nur so und nicht anders vorstellen kann: Im Zentrum steht das sechsjährige Mädchen Alexandria (Catinca Untaru), das mit einem gebrochenen Arm im Jahr 1915 im Krankenhaus gelandet ist. Dort begegnet es dem Stummfilmstuntman Roy, der nach einem Unfall gelähmt im gleichen Krankenhaus liegt – wie sich herausstellt, ist er lebensmüde. Um mit ihrer Hilfe an eine ausreichende Dosis Morphium zu kommen, erzählt er dem Mädchen phantastische Geschichten, die, genauer, die von ihnen ausgelösten Phantasien, der Film opulent ausmalt, mit gleicher Intensität, wie den »realen« Teil seines Films: Alexander der Große kommt vor, Charles Darwin, ein italienischer Anarchist und Explosionsexperte, ein böser Statthalter und ein »Labyrinth der Verzweiflung«. »Alice in Wonderland« trifft auf eine umgedrehte Sheherazade, denn Roy erzählt immer nur weiter, um endlich sterben zu können. Auch Roys Erzählung tendiert zu einem pessimistischen Ende. Aber Alexandria besteht auf einem versöhnlicheren Schluß: Als Roy insistiert »Es ist meine Geschichte« entgegnet sie: »Meine auch!« The Fall ist insofern ein wunderschöner Film über das Erzählen. Überzeugend zeigt er reale und phantastische Welt so, wie die klassischen Märchen der Brüder Grimm: Als gleichberechtigt, und nur durch Vorstellungskraft getrennt. The Fall zeigt die Welt als Abenteuerspielplatz, und ist doch genau das, was »Harry Potter« oder »Herr der Ringe« nur zu sein behaupten: Fantasy für Erwachsene.
Aber ganz überzeugend sind Singhs Bilder dann aber eben trotzdem nicht. Über ihnen liegt etwas seltsam Steriles. Zu sehr ähneln sie vor allem den »Wow-Bildern« jener sündteuren Werbeclips, in denen Autohersteller ihre Fahrzeuge in Wüsten und Vulkanlandschaften, vor das Taj Mahal oder zwischen tanzende afrikanische Eingeborene platzieren um dann weltrettende, kulturverbindende oder gar philosophische Messages zu verzapfen, obwohl sie doch eigentlich nur Autos verkaufen wollen.
Was will uns Tarsem Singh verkaufen? Manchmal denkt man schon, Singh könnte mit seinen schwimmenden Elefanten, brennenden Bäumen und brabbelnden Mystikern ein neuer Matthew Barney werden (was auch kein uneingeschränktes Kompliment wäre), oder zumindest ein neuer Alejandro Jodorowsky, der mit seiner Mischung aus katholischem und Hippie-Irrsinn in drei Filmen unvergessliche Bilder schuf, dann wieder erinnert aber alles einen Filmhochschüler, der einen Dali-Kunstdruck verfilmt,
oder an einen 16-jährigen, der sein erstes Escher-Bild sieht, und nun glaubt, er habe der Welt Wichtiges mitzuteilen. Alles ist hochelaboriert und zugleich absurd in seiner Willkür, seiner glatten Postkartenhaftigkeit, seinem seichten Symbolismus, den unverhohlenen exotistischen Phantasien.
Um zu begreifen, was dem Film fehlt, muss an sich nur an den Zauber und die Intensität von Guillermo del Toros Pans Labyrinth oder von Terry Gilliams Tideland erinnern. Der Gipfel ist dann allerdings das formelhafte, sentimentale Happy-End, das vor allen Abgründen zurückscheut. Ein echter Stuntman würde hingegen von ihnen angezogen.