Russland 2011 · 138 min. · FSK: ab 16 Regie: Alexander Sokurow Drehbuch: Alexander Sokurow, Marina Korenewa Kamera: Bruno Delbonnel Darsteller: Johannes Zeiler, Anton Adassinski, Isolda Dychauk, Georg Friedrich, Hanna Schygulla u.a. |
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Verquasselt, schwerblütig, humorlos |
Er ist ein urdeutscher Mythos – wie Friedrich der Große, wie Winnetou, wie die Nibelungen: Faust, jener frühneuzeitliche Doktor, Alchemist und Menschenzüchter, der, die Wahrheit mit der Seele suchend, spätestens seit zwei Jahrhunderten, seit den beiden Dramen Goethes, auf deutschen Bühnen und in Bürgerhirnen sein Wesen treibt, rastlos, ruhelos, zwischen Himmel und Hölle, Mephisto und Gretchen hin und her schwankend, nicht nur für das fasziniert-verwunderte Ausland, sondern erst recht für die Deutschen selber der Inbegriff des Geistes der Nation, der deutschen Seele.
Dieser Faust – ist das Gedankendrama um einen, der, frustriert durch die Grenzen des menschlichen Geistes, Hilfe sucht bei höheren, höchst zweifelhaften Mächten, überhaupt ein Stoff fürs Kino? Vielleicht schon. Immerhin kein Geringerer als einer der ganz Großen des deutschen Kinos hat ihn bereits verfilmt: Friedrich Wilhelm Murnau ließ nur wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg auf der Leinwand sogar die vier apokalyptischen Reiter los und zeigte Faust als Repräsentanten einer vom Teufel besessenen, zerrissenen deutschen Gesellschaft – in grellem eindrucksvollem Licht- und Schattenspiel eines expressionistischen Stummfilms.
Etwa 40 Jahre später kam dann in der nächsten Nachkriegszeit wieder ein Faust ins Kino. Diesmal von Gustav Gründgens, den Klaus Mann zuvor noch boshaft als Mephisto entlarvt hatte. Balsam fürs von der Nazi-Diktatur erschütterte bundesdeutsche Bildungsbürgertum. Jahrzehnte wurde dieser Gründgens-Faust mit Will Quadflieg und Gründgens selbst in zahllosen Sonntagsmatineen und Schüler-Nachmittagsvorstellungen rauf und runter gespielt – die noch dem letzten Theaterliebhaber das Goethe-Drama verleidete. Irgendwann war dann nach mehr als 50 Jahren die Schminke zerbröselt und man verstand vor lauter Staubwolken das Stück selbst überhaupt nicht mehr.
Höchste Zeit also für einen neuen Faust im Kino. Und nicht etwa aus Hollywood kommt er, mit Daniel Craig als James-Bond-Faust und einem Johnny-Depp-Mephisto, sondern ausgerechnet ein Russe hat den Stoff jetzt verfilmt: Alexander Sokurov, einer der letzten klassischen Autorenfilmer des Gegenwartskinos. Keine einzige deutsche Förderanstalt wollte diesen Film unterstützen, wo die gleichen Anstalten doch über jede Kinderbuch- und Fantasyverfilmung das Geld gleich gießkannenweise auskübeln. Faust hält man wohl für unzeitgemäß oder einfach für zu hoch fürs dummgeförderte Publikum.
Ein Faktum, dass der Regisseur bitter und spöttisch kommentiert hat, als er im letzten Herbst in Venedig für den Film den Goldenen Löwen in der Hand hielt. Jedenfalls ließ Sokurov sich nicht erschüttern, und drehte trotzdem – mit wenig Geld und viel Herzblut, seinen Film, den er jahrelang geplant hatte. Obwohl er kein Wort Deutsch spricht, in deutscher Sprache mit deutschsprachigen Schauspielern. Bisher war der Russe, von schwerblütigen Familiendramen und federleichten,
einfallsreichen Künstlerfilmen einmal abgesehen, vor allem für seine Trilogie über die Diktatoren Hitler, Lenin und Japans Weltkriegs-Kaiser Hiroitho bekannt.
Seinen FAUST sieht Sokurov nun tatsächlich als vierten Teil und zugleich Schlussstein in dieser Reihe. Ein Machtmensch also, einer, der kein »Nein!« versteht, ein Diktator, einer der nach den Sternen greift und bitter abstürzt. Es ist eine so überraschende wie aufregende, sehr fremdartige FAUST-Interpretation, die
Sokurow bietet.
Unerwartet sind auch die Bilder: Gedreht wurde im fast quadratischen Format alter Stummfilme – die erste, aber längst nicht letzte Anspielung auf das große Vorbild Murnau. Sokurov zeigt von der ersten Sekunde an, als der Film im Himmel beginnt, Mut zum Digitalen. Wie bei einem Peter Jackson auf Acid stürzt sich die Kamera in ein digitales Tal, ein digitales Dorf, um dann in einem Kuriositätenkabinett zu landen. Alles sieht auch Mittelerde allzu ähnlich, und bis zum Schluss denkt man immer mal wieder, hier habe man es mit einem Nachlaßwerk von Tolkien zu tun: »Der kleine Hobbit, Zweiter Teil«. Zumal die Kamera, das gibt denen, die den Film noch nicht kennen, eine Ahnung, von Bruno Delbonnel stammt, der zuvor unter anderem Amelie und Harry Potter und der Halbblutprinz bildgestaltet hatte.
Der Anfang ist trotzdem interessant, weil weiterhin unerwartet: Ein bisschen Gothic-Novel, Faust als Frankenstein, der an Leichnamen forscht, Toten ihre Eingeweide entnimmt. Doch statt im Ekel-Horror weiterzumachen, wird bald ein diktatorischer Egotrip wie aus vergangenen Zeiten daraus: Ein Film, wie er kaum noch möglich scheint, eben nur noch, wenn ihn ein Russe macht: Idiosynkratisch, schwerblütigst, völlig humorlos. FAUST ist sehr verquasselt, pausenlos schwappen Wortkaskaden über die Leinwand – gut, dass man nicht auch noch Untertitel lesen muss, denn obwohl das ein russischer Film ist, wird Deutsch gesprochen. Der Ton allerdings ist nachsynchronisiert und klingt wie ein Hörspiel. Von diesem Regisseur würde man nun eher einen Malstrom aus Bildern erwarten, als aus Worten. Die Bilder aber sind langsam und träg, breiig, milchig, so unscharf, wie in den David-Hamilton-Filmen der Spätsiebziger, zugleich ist das ein sehr dunkler Film, in dem Grau, braun und Grünlich dominieren. Manchmal wurden die Bilder noch bewusst verzerrt, und man fürchtet, der Vorführer habe sich in der Ratio vergriffen. Sokurov-Forscher, wenn es sie denn geben sollte, können in den folgenden Jahrhunderten versuchen, im Einsatz dieser schrägen Bilder ein System zu entdecken – »time is out of joint« kann man natürlich immer sagen.
Das Production-Design drängt sich auch hier wieder in den Vordergrund. Faust ist vor allem anderen eine Ausstattungsorgie, billig zwar, aber voller Übertreibung. Gedreht wurde in der tschechischen Republik, wo es offenbar in manchen Orten immer noch so aussieht, wie im deutschen Märchen. Gerade zu Beginn läuft pausenlos Musik. Aber was für welche? Romantik, nicht Klassik denkt man, Manierismen, 19. Jahrhunderts. Mal Schubert, mal Mahler. Pustekuchen: Alles selbstgemacht von Andrey Sigle. Auch hier also: Romantik aus zweiter Hand, die sich als Klassik ausgibt.
Sokurovs Mephisto heißt übrigens nicht Mephisto, sondern Maurizius »Der Dunkle«. Diese Figur ist die Problematischste von allen. Mit anderen Mephisto-Versionen hat er auch sonst wenig zu tun. Er ist ein Pfandleiher, klein, schmierig, körperlich defekt, nahe an Gollum alles in allem. Er ist auch höchst uncharmant. Dieser Teufel ist kein Verführer, keine ästhetische Figur. Und redet gelegentlich jiddisch – und immer deutlicher wird: es ist die Ikonographie des
Antisemitischen, derer sich Sokurov hier bedient.
Sokurov enthält uns alles vor, was wir aus dem Faust kennen: Kein Osterspaziergang, kein Pudel der sich verwandelt, kein »zwar weiß ich viel, doch will ich alles wissen.«, kein Hexensabbat... Warum es überhaupt einen Teufelspakt gibt, das wird nie klar. Man weiß auch am Ende nicht, wer dieser Faust ist, und was er sucht, was ihn bewegt. Freiheit irgendwie. Und die Seele sei nicht mehr wichtig. Irgendwie. Dieser Faust ist mehr eine
Behauptung des Faustischen.
Es ist eher ein Vorwand für ein Kuriositätenkabinett. Die üblichen Verdächtigen unter den deutschsprachigen Darstellern, die leicht defekt oder irgendwie kränklich aussehen, sind daher dabei: Antoine Monod als feister Mönch, Lars Rudolph als hellstimmig lispelnder Wirt und Andreas Schmidt hat dann noch gefehlt. Alle drei sind dreimal im Bild, haben je drei Sätze. Und so hat auch Georg Friedrich, der immer Spaß macht, selbst als Wagner bei Sokurov,
seinen Auftritt: Irgendwann hat er ein Marmeladenglas in der Hand, quasselt von Humunculus, »der Übermensch, der von Menschenhand geschaffene Mensch«, dann rutscht ihm das Marmeladenglas aus der Hand und unten liegt ein blutender, sabbernder Glibberfötus in Marzipanfarben, der sehr erinnert an das Bild von abgetriebenen Kind in »4,3,2«, jenem angeblichen Meisterwerk aus Rumänien.
Irgendwie ist das ein affektierter Schmarren, aber trotzdem muss man es ernst nehmen. Als Schlussstein der Trilogie über Hitler, Lenin, Hiroitho hat es etwas zusätzlich Prätentiöses. Sokurov, so lächerlich man das auch finden kann, will Deutschland vor Hitler retten, und damit auch die Faustische Pose, die doch unrettbar vom Faschismus kontaminiert ist. Dazu ringt er mit den Göttern und mit dem Deutschen Geist. Das ist die diktatorische Pose dieses Kinos, sein Größenwahn. Das
ist aber auch sein Reiz. Es ist auch – ganz unironisch gemeint – gut, das es solche Filme gibt.
Was die Menschen hier reden, ist übrigens nicht immer Goethe. Zum Beispiel: »Hier stehe ich und kann nicht anders. Gott helfe mir Amen!« Das ist nicht Faust – sondern genauso bekannt: Luther. Don Quixote kommt auch vor, und gegen Ende liegen drei Männer in Rüstungen auf einer Anhöhe. Wer ist das? Die Heiligen Drei Könige, vielleicht entlaufen aus Albert Serras Film HONOR DE CAVALERIA (2006).
Das Ende ist überhaupt das Beste an diesem Film. Es spielt in Island, Geysire blubbern und spucken meterhohe Heißwasserfontänen – das sind mal Bilder! Aber da ist es längst zu spät. Einmal kann man jetzt doch lachen: Als Mephisto, pardon: Maurizio tatsächlich gesteinigt wird. »Nochmal, nochmal, nochmal« ruft dabei der Teufel, und man erinnert sich sofort an THE LIFE OF BRIAN: »Jehova, Jehova, Jehova...«
Im Ergebnis bietet Sokurov Betrachtungen eines Unpolitischen. Die natürlich nie wirklich unpolitisch sind. Also Gegenaufklärung. Feier des Mittelalters, Affekt gegen Zivilisation. Anti-Hegel. Anti-Kracauer. Postmoderne. Die Geschichte soll zurückgedreht werden, durch Hitler hindurch vor Hitler zur halbherzigen Unschuld eines Murnau zurück. Also das Gegenteil von »Von Caligari zu Hitler«: Von Hitler zu Caligari, besser zu Murnau. Dann darf man mit Gott ringen und mit Klages den Geist als Widersacher der Seele begreifen, mit Spengler vom Faustischen reden, und in Faust der Sucher UND Materialisten begreifen. Dann darf man auch wieder Juden-Stereotypen benutzen, ohne Antisemit zu sein. Das wird auch niemand Sokurov unterstellen. Einen fahrlässigen Umgang mit filmischen Zeichen dagegen schon. Sokurov will alles predigen und nichts zeigen. Zugleich verlegt er sich auf die Geste des Naiven.