Kanada/GB 1999 · 116 min. · FSK: ab 12 Regie: Atom Egoyan Drehbuch: Atom Egoyan Kamera: Paul Sarossy Darsteller: Bob Hoskins, Elaine Cassidy, Arsinée Khanjian, Sheila Reid u.a. |
Joseph Ambrose Hilditch (Bob Hoskins) steht in seiner Küche und bereitet nach den Anweisungen einer TV-Kochsendung ein üppiges Menü zu. Er ist ein richtiger Fan der Fünfziger, die gesamte Einrichtung der Küche, alle Gerätschaften, der Fernseher und sogar die Sendung sind aus der Zeit in der im Radio Lieder wie Nat King Coles »Mona Lisa« liefen, oder auch »My Special Angel« von Malcolm Vaughan, das musikalische Leitthema der Figur Hilditch. Er tut das, was er immer macht, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt: er kocht mit seiner Mutter Gala, die zwar nicht physisch anwesend ist, von der Hilditch aber sämtliche Aufzeichnungen der Fernsehshow besitzt, in der sie in den Fünfzigern die Starköchin war. Daß seine Sammelleidenschaft manische Züge besitzt, wird spätestens dann klar, wenn Hilditch die gerade kaputt gegangene Küchenmaschine durch genau das gleiche Exemplar ersetzt, das er aus einem großen Stapel gleich beschrifteten Kartons in der Abstellkammer holt: es ist eine Maschine vom Typ »Gala« – das Merchandising-Produkt zur Kochshow der Mutter. Das täglich Kochritual scheint der Ausgleich für seine Arbeit, denn er leitet die Großküche einer Fabrik – doch tut er dies mit Akribie und großer Hingabe. Als ihm ein Vertreter mal einen Automaten zur Essensausgabe verkaufen will, entgegnet ihm der kleine, freundliche Hilditch, daß diese Anschaffung völlig unmöglich sei, da man Essen nur mit menschlicher Wärme und Fürsorge servieren sollte.
Das zweite musikalische Thema des Films wird von Kate Bush gesungen: ein elegisches Lied, durchaus typisch für die Musik und den Stil von Atom Egoyans Filmen. Es ist verknüpft mit der anderen Hauptfigur, Felicia, und ihre Erinnerungen an ihre Heimat Irland. Wie Hoskins ist Elaine Cassidy als Felicia großartig besetzt, und allein die beiden Hauptdarsteller lohnen den Kinobesuch. Die junge und unglaublich naive Felicia ist Hals über Kopf nach England gekommen, weil Sie nach ihrer großen Liebe sucht, die auf den Namen Johnny Lysaght hört. Dieser Junge hat sich – wie es wohl alle Johnnys dieser Welt tun – aus dem Staub gemacht. Schreiben wolle er ihr, hatte er gesagt, gleich nach der Ankunft in Birmingham, wenn er seinen Job bei einer Rasenmäherfabrik angetreten hat. Aber Felicia hat natürlich nichts mehr vom staubigen Johnny gehört. Jetzt ist sie schwanger und irrt durch die Industrieanlagen Birminghams auf der Suche nach dieser Rasenmäherfabrik. Doch statt Johnny trifft sie immer wieder auf Hilditch, der in seiner freundlichen Art ihr auch immer wieder weiter hilft. Johnny bleibt erst einmal unauffindbar, doch Hilditch und Felicia freunden sich langsam an; als Felicia bereits die Suche aufgeben will, ist es Hilditch, der ihr immer wieder Mut zuspricht. Doch Felicia weiß nichts von den Videoaufnahmen, die Hilditch von ihr macht, und erst spät wird ihr klar, daß Hilditchs Hilfsbereitschaft alles andere als selbstlos ist.
Wie auch schon in Exotica und The Sweet Hereafter (Das süsse Jenseits) erzählt Egoyan nicht chronologisch, sondern in meisterhaft assoziativ verknüpften Rückblenden, die sich wunderbar mit den langsamen Kamerafahrten zu einem stetigen Fluß des (visuellen) Erzählens verbinden und einen starken Traum- bzw. auch Alptraumcharakter vermitteln. Egoyans Kino ist deshalb immer ganz bei sich selbst, an einer Nahtstelle zwischen Realität, Traum und Film. Diesmal hat er sich insbesondere bei der Charakterisierung Hilditchs an den Großmeister dieser Nahtstelle angelehnt, Alfred Hitchcock himself. Ohne daß Egoyan versucht hätte, einen Hitchcock-Thriller zu inszenieren, zeugt der ironisch bis warmen Blick auf Hilditch von einer Erzählhaltung, die Hitch nicht unähnlich ist. Als Hommage mutet dann auch die Szene an, in der Hilditch Felicia eine Tasse Tee nach oben bringt – wie weiland Cary Grant es mit der Milch in Suspicion getan hat.
Die Rückblenden bilden in Felicia, mein Engel einen starken Kontrast gegeneinander und zur grauen Industrieöde Birminghams. Hilditchs Erinnerungen sind einmal quietschend bunt und das Grün der Wiese, das in Felicias Erinnerungen an Irland vorherrscht, wird fast zum gelb, vor lauter künstlicher Kolorierung. Er erinnert sich so gut wie immer an medial vermittelte Bilder von seiner Mutter oder von den Mädchen, die er auf Video aufgenommen hat; Bilder, die er sich auch aneignen kann, ganz nach seinem beständigen Bedürfnis der Einverleibung. Doch genau wie Felicias Erinnerungen berichten sie von den erfahrenen Verletzungen. Nach und nach werden so die Schichten der Figuren skizziert, und vor allem die Familien stellen sich bei beiden als prägende Instanzen heraus. Im Lauf ihrer Annäherung werden die Parallelen zwischen den Charakteren deutlich, beide sind irgendwie verlorene Kinder, die es immer noch nicht geschafft haben, von ihren Eltern loszukommen. Und beide sehnen sich nach einer scheinbar unerreichbaren Wärme und Nähe zu den Menschen, die sie lieben. Am deutlichsten wird dies in einem Traum Felicias, in dem ihr Freund Johnny mit ihrem gemeinsamen Kind auf den Schultern entlang der Küste Irlands geht. Am Ende hat man das Gefühl, daß ein Teil dieses Kindes in Felicia weiterleben wird, wie man auch sicher ist, daß ein Teil von Felicia tot ist – ähnlich wie bei der Figur Sarah Polleys in Das süsse Jenseits – und das ist zumindest bei Felicia gut so.