Deutschland 2013 · 109 min. · FSK: ab 16 Regie: David Wnendt Drehbuchvorlage: Charlotte Roche Drehbuch: Claus Falkenberg, David Wnendt Kamera: Jakub Bejnarowicz Darsteller: Carla Juri, Christoph Letkowski, Meret Becker, Axel Milberg, Marlen Kruse u.a. |
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Pippi im Ficki-Kacka-Land |
Wer anfällig für Herpes ist, sei gewarnt vor diesem Film – ich habe gleich zwei bekommen. Trotzdem bereue ich nichts.
Feuchtgebiete ist definitiv ein grenzwertiges Kinoerlebnis, was aber gerade den Reiz dieses Film ausmacht, ihn sehenswert macht für mich. Er rockt einfach, ist ein bisschen wie ein Punk-Konzert – es macht nur Spaß, wenn’s auch ein bisschen weh tut und so manche Grenze definitiv überschritten wird.
Feuchtgebiete ist auf seine Art ein Horrorfilm, nur dass es nicht um Zombies geht und die Angst vor dem Tod ins Extrem getrieben und auf die Schippe genommen wird, sondern in diesem Fall die Angst vor Keimen, vor Krankheit. Gnadenlos wird abgerechnet mit unseren modernen Hygienevorstellungen, damit, dass Hygiene teilweise einen größeren Stellenwert erlangt als die eigene Gesundheit.
Ich hatte das Buch nicht gelesen, weil ich mir, nach allem, was ich darüber gehört hatte, sicher war, dass ich daran keine Freude haben würde. Als nun David Wnendt dieses Buch mit Peter Rommel verfilmte, war ich wirklich gespannt auf das Ergebnis, weil ich beide sehr schätze für ihre Arbeit.
Herausgekommen ist für mich eine gelungene Gratwanderung zwischen Ekelhorrorfilm und berührender Innenansicht einer jungen Frau, die total verloren ist und sich gegen jede Wand schmeißt, die sich ihr bietet, in der Hoffnung, irgendwann einmal an einer kleben zu bleiben und endlich Halt zu finden. Damit steht die Hauptfigur Helen für viele junge Menschen in unserer Gesellschaft. Dieses Gefühl, nirgendwo hinzugehören, keinen Platz zu haben, in dem man geborgen ist, und sich nach der Suche nach Anerkennung durchs Leben zu strampeln. Insofern finde ich diesen Film durchaus relevant.
Ich bin ehrlich beeindruckt, wie David Wnendt seine Hauptdarstellerin Carla Juri unbeschadet durch diesen Film manövriert, sie mit Avocados Sex haben kann und trotzdem als unangefochtene Heldin durch dieses Chaos geht. Möglicherweise ist es für junge Menschen sehr befreiend, diesen Film zusehen, denn im Zeitalter von Facebook und Smartphone, wo alles bewertet und kommentiert wird, ist es sicherlich eine große Herausforderung, als Jugendlicher seinen eigenen Weg zu finden. Selbstbewusstsein für das eigene Tun zu entwickeln, jenseits der Bewertungschemata Anderer. Genau das macht Helen. Auch wenn ich ihre Ansichten nicht teile, finde ich diese Form von Emanzipation beachtlich.
Interessanterweise können viele Männer, mit denen ich gesprochen habe, mit diesem Film weniger anfangen. Woran liegt das? Wir sehen in Filmen in der Regel sehr oft männlich phantasierte Frauenbilder. Auch Frauen selbst orientieren ihr eigenes Selbstbild weitgehend an männlichen Vorstellungen, versuchen zum Beispiel, in ihrer eigenen Sexualität der männlichen Phantasie zu entsprechen. Ich würde nicht sagen, dass die Helen in Feuchtgebiete einer typisch weiblichen Sexualität entspricht. Aber sie wagt es, eine eigene Sexualität zu entwickeln, jenseits der Vorstellungen anderer. Und das ist das Revolutionäre! Und ich denke, das ist auch der Teil, der so viele befremdet. Jedoch – ohne Carla Juris Natürlichkeit würde dieses filmische Experiment nicht funktionieren. Klar ist Helen durchgeknallt. Aber die Ehrlichkeit und Selbstverständlichkeit in Carla Juris Spiel bringt mich dazu, dass ich ihre Helen so annehme, wie sie ist und mich nicht abwende. Sie in Herz schließe, sie beschützen will. Das gilt übrigens für alle Figuren in diesem Film, die durchweg einen Knall haben – wie alle Menschen – aber eben mit Wärme erzählt werden.
Dieser Film hat Chuzpe und das finde ich gut für das deutsche Kino. Feuchtgebiete geht auf volles Risiko und lässt es ordentlich krachen. Davor habe ich Respekt. Er erinnert mich am ehesten an gelungene Theaterabende von Armin Petras: Krass, sehr lustig, tun auch immer irgendwo weh, gleichzeitig voller Sehnsucht und einer großen Liebe für seine Figuren und das Leben überhaupt.
»Es gibt kein wort in der sprache, das nicht irgendwo das beste wäre und an seiner rechten stelle.«
Gebrüder Grimm
Im letzten Herbst erschien im Beck-Verlag ein aufschlußreiches Buch: »Das Feuchte und das Schmutzige. Kleine Linguistik der vulgären Sprache«, in dem der Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger jene Worte untersuchte, die als »unaussprechlich« aus dem Sprachschatz verbannt werden. Gaugers Griff ins Klo der Sprache führte zu einem für unsere Zwecke besonders signifikanten Resultat: Der Deutsche flucht anders als andere; auch in der Sprache bewegt er sich auf einem Sonderweg – und zwar einem analen: Auffällig viele Wörter und Rede-Wendungen beziehen sich auf den Fäkalbereich. Wo der Angloamerikaner »Fuck!« ruft, brüllt der Deutsche »Scheiße!!«, das sagt schon vieles, natürlich auch über den Angloamerikaner.
Charlotte Roches analfixierter Roman »Feuchtgebiete« gehört zu jenen Büchern, die man nicht gelesen haben muss, um zu wissen, was drinsteht, und über die man bald so viel gehört hatte, dass die tatsächliche Lektüre den Eindruck nur schmälern könnte. In ihrem Debütbuch »Feuchtgebiete« ging es um Menschen, die unter anderem absichtlich auf ein verdrecktes öffentliches Klo gehen, sich hinsetzen und mit dem Hintern die Brille abwischen, um Mädchen, die gebrauchte Tampons tauschen, und um Jungs, die auf eine Pizza wichsen, bevor sie sie ausliefern. Ok. Warum aber muss man das jetzt lesen oder angucken? Um mitzureden. Um sich der These auszusetzen, hier habe man es mit einem Statement des Feminismus zu tun. Und vielleicht weil einem durchaus sympathische, intelligente Frauen nach der Premiere erklären, das sei »auf seine Art ein Horrorfilm, nur dass es nicht um Zombies geht, sondern um die Angst vor Keimen, vor Krankheit.«, das sei Kritik »an unseren modernen Hygienevorstellungen«, das sei eine Form von Emanzipation, weil hier eine Frau ihr eigenes Selbstbild einmal jenseits männlicher Vorstellungen und männlicher Phantasie gestalte, weil sie es wagt, eine eigene Sexualität zu entwickeln, jenseits der Vorstellungen anderer. Na dann.
»Meiner Mutter würde ich erzählen: Es geht die ganze Zeit nur um Masturbation bei einer Frau, und das Buch ist total pornographisch. Ihnen würde ich sagen, dass das Buch sich hervorragend als Wichsvorlage eignet, und dass man ganz nebenbei noch was lernt über den weiblichen Körper.«
Das ganze Buch spielt im Krankenhaus, weil sie sich bei einer Intimrasur im analen Bereich eine Analfissur zuzieht. So liegt die also die ganze Zeit im Krankenhaus und muss sich die
ganze Zeit im Krankenhaus mit ihrem Körper unten rum vorne und unten rum hinten beschäftigen. Helen Memel hat wolkenförmige Hautlappen, die aussehen wie die Fangarme einer Seeanemone, die hängen da so aus der Rosette raus... der Proktologe von Helen Memel nennt das Blumenkohl. ... Das Buch ist sehr stark autrobiographisch. Ein großes Scheidungskinddrama.
Charlotte Roche in der NDR 3 Talk Show auf die Frage, worum es in »Feuchtgebiete« gehe.
»Wacker, wacker, kleiner Kacker« so fasste Alfred Kerr einmal das Ergebnis eines enttäuschenden Theaterabends zusammen. Und läge es nicht zu nahe am sumpfigen Teich des Kalauerns, so wäre damit auch schon alles gesagt über »Feuchtgebiete«.
»Feuchtgebiete« ist, das nochmal zur Erinnerung für alle, die schon keine Qualitätszeitungen mehr lesen, ein Film des fraglos begabten Nachwuchsregisseurs David Wnendt der vor zwei Jahren mit »Kriegerin« von einer netten Neonazibraut erzählt und damit passgenau zur Aufdeckung der NSU-Terrorbande mit ihrer brauen Domina viele Preise gewonnen hatte. Vor allem aber handelt es sich um die Verfilmung jenes gleichnamigen Buches der TV-Moderatorin Charlotte Roche, über das bei seinem Erscheinen die deutsche Literaturkritik lange und überlange Texte schrieb, in denen in vielen Worten gesagt wurde, warum dies alles beim besten Willen keine Literatur sei, und schon gar keine gute, und warum es sich aber trotzdem um ein wichtiges Buch handle.
Warum nochmal? Weil eine nette junge Dame – und kein langweiliger alter Herr – darin über Mädchenpopos und Muschis, über Vaginal-Aromen und Rosetten geschrieben hat, also über etwas, worüber noch niemals irgendjemand je etwas zu Papier gebracht hat – den Marquis de Sade einmal ausgenommen, und ein paar tausend andere, an deren Namen sich keiner mehr erinnert.
»Nicht Vernunft, sondern Sinnlichkeit begründet die ästhetische Wahrheit oder Unwahrheit.«
Herbert Marcuse
Das alles hatten die Herren und Damen Kritiker vergessen: »Charlotte Roche ist sprachlich etwas fast Unmögliches gelungen. Sie versöhnt uns mit dem Beschämenden, bei dem alle Verführung anfängt. Indem ihr kaltblütiger Seiltanz den grotesken Leib begnadigt, erlöst er die Erotik aus der Verfallenheit ans vollkommene Bild. ›Feuchtgebiete‹ ermächtigt zum Spiel mit der individuellen Versehrtheit und ermutigt den kunstlosen Sexus, endlich erwachsen zu werden.«
schwärmte Ingeborg Harms in der FAZ, »Dabei ist es dieser aufklärerische Furor, dieser unbedingte Wahrheitstrieb, den Roche in ihren Fernsehauftritten immer schon gezeigt hat und der ihren Roman jetzt so sehr von dem unterscheidet, was an deutscher Prosa sonst in den Regalen steht« legte Georg Diez in der ZEIT nach, im gleichen Blatt lobte Ijoma Mangold später: »Feuchtgebiete ist ein furios übersteuerter Hilfeschrei nach Verwurzelung, Geborgenheit, Verlässlichkeit und Treue.
Eine Apotheose der heiligen Familie, die sich allerdings nur noch aus den Trümmern ihres einstigen Denkmals zusammensetzen lässt. Denn der Roman ist zugleich eine hellsichtige Analyse aller Fliehkräfte, die am modernen Individuum zerren.«
Die Feuchtgebiete, das waren vor allem die feuchten Höschen der Literaturkritik.
Es waren bezeichnenderweise vor allem Männer, die lobend notierten, dass ihren Männerfantasien in diesem Roman neue Facetten zugefügt wurden. Frauen äußerten sich entweder distanzierter – »Gibt es eigentlich keine anderen Bücher?« (Susanne Mayer, ZEIT), oder sie analysierten das Phänomen: »So ist denn das einzig Obszöne an diesem Angriff auf die Ekelgrenzen der Zuspruch alter Herren vom Schlage eines Claus Peymann, der mit Charlotte Roche und ihrem Bewunderer Roger Willemsen auf der Lit.Cologne eine Veranstaltung zum Thema 'Radikalität' inszenierte und sie einen Ulrike-Meinhof-Text verlesen liess, bevor sie erste Kostproben aus ihren späten Mädchenbekenntnissen gab. Deren Radikalität ist die von RTL-Geständnisshows und -Aversionstrainings à la 'Dschungelcamp'. Als ebendieses Publikum Lesungen und Buchläden stürmte, jubelte unsere Heldin, das Konzept sei aufgegangen, und alle tanzten mit ihr auf dem Boulevard. Deutschlands Kulturprovinz hat wieder einmal einen Superstar gefunden.« (Dorothea Dieckmann in der NZZ).
Die Mehrheit sah es anders: »Die sensationellen Verkaufszahlen belegen jedoch, dass Charlotte Roche einen Nerv getroffen hat, der sich so schnell nicht wieder beruhigen lässt.« (FAS, 13.4.2008)
In der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« schlug Ingeborg Harms den Bogen vom Mittelalter über die frühe Neuzeit, genauer gesagt Michail M. Bachtins Buch über Rabelais und die frühe Neuzeit, um über Lessing auf die böse Aufklärung zu kommen: »Indem Roches kaltblütiger Seiltanz den grotesken Leib begnadigt, erlöst er die Erotik aus der Verfallenheit ans vollkommene Bild.« »Feuchtgebiete« sei »auch ein Pamphlet gegen die Pin-up-Kultur der lückenlos Attraktiven und die Zumutung, die sie für wirkliche Frauen bedeutet«. Fragt sich nur, was eigentlich wirkliche Frauen sind, und ob das Wirkliche immer das Natürliche ist. Und ob das Natürliche immer das Unvermittelte ist – unrasierte Körperbehaarung zum Beispiel. In der naiven Annahme, es könne überhaupt so etwas wie natürliche Sexualität geben, zeigt sich die ganze Unschuld und Naivität der Verfasserin.
Erinnern mal kurz an einen anderen Bestseller, einen, der über zehn Jahre früher als »Feuchtgebiete« erschien, und weltweit noch um einiges mehr einschlug: Bret Easton Ellis' »American Psycho«. Der gilt nicht gerade als Manifest des Feminismus. Dabei tut er aber genau das Gleiche: Er überhöht den perfektionierten weibliche Körper – aka »hard body« – zum Objekt destruktiver Phantasien. Patrick Bateman wie Helen wollen ein Körperideal zerstören.
Helen ist ein German Psycho, und Roches Buch wie einer dieser Selbsterfahrungskurse der siebziger Jahre, in denen Frauen gemeinsam ihre Körper erkundeten, und man das Parfüm mal wegließ, weil man sich nach einem Zurück zur Natur sehnte. Überhaupt sind Roche und ihre Bücher kleinbürgerliche Versionen der Hippie-Philosophie: »Ich bin für mehr Sex – mehr Schweinereien, keine Tabus. Ich glaube, dass es vom echten Sex, dem Sex, der riecht und schmeckt und schmutzige Geräusche macht, nie genug geben kann.« (Roche)
»Vor Jahrzehnten haben Frauen öffentlich ihre Büstenhalter verbrannt, um die Emanzipation voranzutreiben. Das muss man leider immer mal wiederholen.«
Charlotte Roche
Kommen wir zum zweiten Punkt, dem Feminismus. Hartnäckig hält sich die Behauptung, von der jetzt auch der Film massiv profitiert, »Feuchtgebiete« sei ein Manifest der Frauenbewegung, wo mal gehörig gegen den Männerterror namens Sauberkeit, Parfüm und Make-Up Widerstand geleistet werde. Lassen wir mal die Frage weg, ob Männer wirklich das saubere Geschlecht sind, wer sich mehr über müffelnde Körper und minimale Intimhygiene beschwert, und ob es – um mal in den Jargon des Buches zu verfallen – wirklich mehr Männer gibt, sie sich über den Geruch bei Muschi-lecken geekelt haben, als Frauen über den grindigen Hüttenkäse zwischen Vorhaut und Eichel.
Nur: was ist eigentlich so schlecht an Sauberkeit und Rasieren, ob nun Kinn- oder Achselbehaarung? Was ist so gut an der neuen Tyrannei der Intimität?
Bereits zum Erscheinen des Buches wies Tobias Kniebe im SZ-Magazin vom 18. 4. 2008 über »Das Prinzip Achselhaare«, den man heute wieder abdrucken sollte, auf die Tatsache hin, dass bereits bei den Griechen und Römern »und auch schon davor« Menschen (nicht nur Frauen) mit bewussten Kulturtechniken ihre Körperbehaarung und überhaupt ihren Geist und Körper veränderten und manipulierten, »mit Muschelzangen, mit Pech und Harz, mit Schlangenpulver und Ziegengalle. Als äußeres Zeichen der Emanzipation ihrer Lust, als Unabhängigkeitserklärung von der Natur.« Weil auch Sex eine Kulturtechnik ist, folgert Kniebe korrekt, dass weibliches Achselhaar, unschuldig getragen, nicht anderes transportiert, als die eine »subtile, aber erschreckende Botschaft: schlechter Sex, gefolgt von sofortiger Schwangerschaft.« Zurück in die Höhle.
Natürlich ist es eine berechtigte Frage, warum 12-jährige plötzlich wie Pornodarstellerinnen aussehen müssen, aber sie durchs anderen Extrem – Haare wachsen, wo sie wollen, alles soll schleimen und stinken, wie die Natur es will – zu kontern ist vor allem denkfaul, und zu einer Kritik der hygienischen Vernunft wird Roches Buch dadurch auch nicht. Hinzu sollte man wenn man so fragt, nicht von der allgemeinen Pornofizierung unserer Gesellschaft schweigen – und mit der hat Charlotte Roches Buch viel mehr zu tun, als es vorgibt. Denn ein Porno ist »Feuchtgebiete« selbstverständlich, wie seine Verfasserin auch zugibt (»Wichsvorlage«): So kalkuliert wie durchkomponiert werden die Tabuzonen abgeklappert: Analverkehr, Menstruationssex, Spermabrockenlecken.
Nur wird es von Roche pseudofeministisch verbrämt: Wie eine Pippi Langstrumpf unserer Tage sitzt sie mit langen Stiefeln und kurzem Röckchen in den Talkshows, und gibt das Kot-Girlie. Das mag dann, wie die Zeit verteidigend analysierte, eine Kunstfigur für die Öffentlichkeit gewesen sein – aber auch Habermas oder Sloterdijk sind bei ihren öffentlichen Auftritten ja nicht sie selbst, insofern muss man das auch nicht eigens erwähnen. Entscheidend ist, was öffentlich ist.
1968ff., lang genug ist’s her, ging es bekanntlich noch um die Befreiung der Triebe, oder, um es mit Herbert Marcuse, einem der schillernden Herdentreiber dieser Jahre, zu sagen, darum, »dass psychologische Kategorien zu gesellschaftlichen Kategorien geworden sind.« Es folgte der lange Weg durch die Institutionen, die Erschaffung des Privatfernsehens, bis hin zu unserer heutigen Gesellschaft, in der man Kinder in Castingshows gedrillt werden, und abends YouPorn gucken, man sich aber über mehr als 30 Jahre alte Texte von Politikern aufregt, wo sie fragen ob der § 174 wirklich das letzte Wirt über kindliche Sexualität formuliert. Kinderschutz hat eben viele Facetten – oder, um noch einmal Marcuse zu zitieren: »Die Epoche neigt dazu totalitär zu sein, selbst wo sie keine totalitären Staaten hervorgebracht hat.«
Charlotte Roche ist als öffentliche Erscheinung in erster Linie eine Landplage. Zugleich Roche gelang etwas, was noch kein deutscher Autor geschafft hat: Sie stand irgendwann auf Platz eins der internationalen Amazon-Bestsellerliste, auf dem Onlineportal war ihr Buch das weltweit meistverkaufte. In unserer Macho-Gesellschaft, in der der Kapitalismus die Menschen längst in ihre zahllosen, vermarktbaren Teile zerlegt hat und aus allem eine Aktiengesellschaft und Kapitalanlage macht, und in der die Produzenten mit den Konsumenten zunehmend identisch werden, sich selbst in Warenfetische verwandeln, in solch einer kannibalischen Welt, gehört sie damit zu den Erfolgreichsten. Jedenfalls galt allgemein die Devise: Wenn 2,5 Millionen Fliegen auf einem Kothaufen sitzen, ist das für nichts ein Argument. Wenn 2,5 Millionen Leser ein Buch über Kothaufen kaufen, beweist dies alles und beeindruckt sogar die FAZ.
Vielleicht gab es diese langen Rezensionen sowieso auch nur deshalb, weil sich die Verfasserin medienwirksam mit Alice Schwarzer stritt, und gute PR-Arbeit sämtliche Talkshows zu Feuchtgebieten gemacht hat, weshalb das Qualitätsfeuilleton dann in aller Leserfreundlichkeit und Serviceorientierung glaubte nachziehen zu sollen, und man sich nicht mehr traute den Buchkäufern zu sagen, um was es sich bei dem gerade erworbenen Buch denn wirklich handelte.
Ziemlich genauso geht es jetzt auch dem Film. Sex sells, das wissen wir natürlich schon lange, auch wenn die Sauereien hier nichts mit Sex zu tun haben, sondern nur mit Hygieneproblemen. Etwas überrascht nimmt man als Daheimgebliebener trotzdem die Jubelalarien und Beifallsstürme zur Kenntnis, die von den Schweizer Bergen und der Filmpremiere in Locarno vergangene Woche zu uns herüberregneten.
Felicitas von Lovenberg wechselte ob der Tatsache, nach Harry Potter wieder eine Literaturverfilmung rezensieren zu dürfen, in der FAZ gleich in die Schnappatmung: »Man muss es tatsächlich deutlich sagen: Dieser Film ist eine Zumutung, ein Anschlag auf die Sinne, ein Ausreizen des persönlichen Ekels. Man sollte kurz vorher lieber nichts gegessen oder getrunken haben; während des Films bleibt einem ohnehin alles im Halse stecken.« Daniel Kothenschulte hatte wohl wieder mal einen anderen Film gesehen, oder seinen eigenen, inneren, als er in der FR die Worte »lustvoll, befreiend, innovativ« in einem Satz verwendete.
Aber dann fällt einem wieder ein, dass man eben nicht alles glauben muss, was einem die nette Marketing-Dame von nebenan empfiehlt.
Das erste Bild sagt eigentlich schon alles: Da sieht man eine Körperfalte in Großaufnahme. Ein Po? Geht ja gut los. Ist dann aber doch nur das in der Hocke angewinkelte Bein der Hauptfigur. Ein Bluff. So wie der ganze Film. Ein Film, der so tut, als ob, der clean über Schmutz redet, und sich im entscheidenden Moment nix traut. Der ansonsten aber berechnend auf den Voyeurismus und die Erwartungen des Publikums setzt. Der gerade in diesem Kalkül ärgert.
Wer den Film sieht, der ist nämlich einerseits begeistert von der Schweizer Hauptdarstellerin Carla Juri. Die schmeißt den Film – sie ist intensiv und auch nach über 90 ansonsten recht zähen Minuten immer noch überraschend und mit immer neuen Einfällen aufwartend.
Ansonsten aber hat man eine kreuzbrave und alles in allem arg verschämte Buchbebilderung gesehen, bei der man erstens wieder einmal froh ist, dass es immer noch kein Geruchskino gibt, und zweitens als
Filmliebhaber verzweifelt, weil es der deutsche Film einfach zur Zeit nicht schafft, den Zeitgeist zu treffen, und irgendetwas auf die Leinwand zu bringen, das auch nur hab so interessant oder provokativ, oder wenigstens gehaltvoll ärgerlich und publikumsspaltend ist, wie eine durchschnittliche Pollesch-Inszenierung oder ein Castorf-Ring: Die »Feuchtgebiete« sind vor allem langweilig.
Die Musik ist glatt und clean, der Film hat keine Geschichte, keinen dramatischen Bogen, sondern filmt Stationen ab. Im Vergleich zum Buch hat man zwar das Explizite reduziert und die Handlung mit netten Psychoverweisen und den üblichen Trauma-Blabla aufgepeppt, aber für einen Spielfilm hält das auch nicht vor, zumal die Hauptfigur offenbar nichts anderes im hübschen Köpfchen hat, als das die seit zehn Jahren getrennten Mami und Papi wieder nett zu einander sind.
Wenn Helen ihre
verschiedenen Körperausscheidungen isst, ist dies die Rückkehr in jene Zeit des Übergangs von der oralen zur analen Phase, die auch Freud beschreibt: Das Kind benutzt sein AA, um die Aufmerksamkeit der Eltern zu erhalten.
Es bleibt also mehr als ein Schamhaar in der Suppe dieses mit seiner Schmuddeligkeit kokettierenden regressiven Pamphlets. Wer das im Kino ansehen soll, ist schwer zu sagen, vermutlich aber gibt es eine mathematische Formel für Bestsellerverfilmungen, nach der zehn Prozent aller Leser plus Begleitung reingehen. Das wären dann knapp 500.000 Zuschauer, was man dem deutschen Kino und sogar diesem Film gönnt. Denn besser als eine Til Schweiger Verfilmung ist Feuchtgebiete locker.
Auf einen deutschen Film, der endlich einmal den Nerv von Jugendlichen ebenso trofft wie den ihrer Eltern, und in dem man sich als Filmkritiker einmal wirklich im Reinen fühlt mit der Kinonation, und das deutsche Kino für ein paar Monate mal auf Augenhöhe mit dem Weltkino liegt, auf einen Film wie zuletzt Tom Tykwers Lola rennt also, warten wir auch nach 15 Jahren weiterhin vergebens.
Hans-Martin Gauger: Das Feuchte und das Schmutzige. Kleine Linguistik der vulgären Sprache. C.H. Beck, München 2012, 16,95 Euro.
Peter Handke: »Versuch über den Stillen Ort«; Suhrkamp, Berlin, 2012, 17,95 Euro.