USA 2006 · 110 min. · FSK: ab 12 Regie: Paul Greengrass Drehbuch: Paul Greengrass Kamera: Barry Ackroyd Darsteller: Meghan Heffern, Peter Marinker, Denny Dillon, David Rasche, John Rothman u.a. |
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Verzweiflungstat oder einzige Alternative? |
Mit United 93 (Flug 93) ist aktuell der erste Spielfilm, der sich direkt mit den Anschlägen vom 11.9.2001 beschäftigt, in unseren Kinos zu sehen.
Der dokumentarisch angelegte Film schildert auf sehr sachliche und aber auch extrem spannende Weise die Vorgänge während der Anschläge in diversen zivilen und militärischen Kontrollräumen, sowie parallel dazu den Flug des vierten an diesem Tag entführten Flugzeugs, welches sein terroristisches Ziel nicht erreichte und auf einer Wiese zerschellte.
Da an anderer Stelle schon ausgiebig über diesen Film berichtet wurde, soll sich hier auf zwei Dinge beschränkt werden.
1. Eine ausdrückliche Empfehlung dieses in zahlreicher Hinsicht bemerkens- und sehenswerten Films.
2. Der Beschäftigung mit der scheinbar unvermeidbaren Diskussion, die dieser Film ausgelöst hat.
Es geht dabei um die Frage, ob bzw. wie bestimmte reale Katastrophen in einem Spielfilm behandelt werden dürfen.
Dass diese müßige Diskussion hier wieder einmal geführt werden muss, resultiert aus zwei ärgerliche Missverhältnissen bzw. -ständen.
Das erste ist die schlichte Geringschätzung, die die Kunstform Film immer noch erfährt.
Während seit 9/11 unzählige Bücher, Musik- und Theaterstücke, Bilder und sonstige Kunstwerke zu diesem Thema geschaffen wurden und sich bei kaum einem davon Empörung regte (eher im Gegenteil), bringt der erste Spielfilm hierzu unvermeidbar die Menschen in Wallung.
Während die anderen Kunstwerke ganz selbstverständlich Gefühle wie Trauer, Mitgefühl oder Spannung hervorrufen (dürfen), gelten die selben Emotionen im Film plötzlich als verwerflich, da hier angeblich mit dem Leid anderer ein billiger Effekt erzielt wird.
Woher kommt diese ungleiche Betrachtungsweise, die hinter der »guten« Kunst Aufarbeitung und Aufklärung, hinter dem Kino aber Ausbeutung und Skrupellosigkeit vermutet?
Die Ursache hierfür liegt in der Struktur des Kinos, das sich seit jeher und zwangsläufig in einem Spannungsverhältnis von Kunst und Kommerz befindet.
Das problematische Missverständnis besteht nun darin, die kommerziellen Notwendigkeiten des Kinos (die Produktionskosten von United 93 betrugen z.B. rund 15 Mio. Dollar, welche der Regisseur wohl kaum aus seiner Portokasse gezahlt hat) als primitives Gewinnstreben fehlzudeuten und jedem Film
prinzipiell damit den Ruch des brutalen Geschäftemachens anzuhängen.
Tatsächlich aber haben (allen finanziellen Zwängen zum Trotz) viele Filme einen unzweifelhaften Rang als Kunstwerk, was sich auch nicht dadurch relativiert, dass andere Werke der selben Kunstform zu 98 % kommerziell orientiert sind.
Da es keine pauschalen Regeln zur diesbezüglichen Abgrenzung gibt und die Grenzen naturgemäß sehr fließend sind, muss man wohl oder übel jeden Film für sich bewerten, egal wie viel er gekostet hat, wer ihn gemacht hat oder wovon er handelt.
Der letzten Punkt – die Egalität der Themen – führt zur zweiten großen Schwäche der Diskussion um United 93.
Es gibt wohl kaum eine menschliche Katastrophe in unserer Geschichte, die das Kino noch nicht behandelt hat (von den erfundenen Katastrophen ganz zu schweigen).
Krieg, Massenmord, Terror, Trauma, Wahnsinn; das Kino zeigt uns all das, mehr oder minder gelungen, mehr oder minder kritisch, mehr oder minder wahrheitsgetreu, mehr oder
minder kommerziell.
Dabei gilt: Je weiter (räumlich, zeitlich und emotionell) eine Katastrophe entfernt ist, um so lockerer geht man damit um. So sind dann die Kriegsherde dieser Welt immer schon ein beliebter Schauplatz für manch markigen Soldaten- bzw. Abenteuerfilm, liefern die Wahnsinnstaten von Mördern regelmäßig die gruseligsten Vorlagen und geben Genozid, Massensterben und Staatsterror die Grundlagen für unzählige Dramen.
Angesichts dessen hat man zwei Möglichkeiten. Entweder man verdammt das Kino insgesamt, da es in unzähligen Fällen die Darstellung / Ausbeutung / Vermarktung des menschlichen Elends betreibt oder man akzeptiert, dass das Leiden ein zentrales dramaturgisches Grundmotiv ist und dass die entscheidende moralische Frage dabei nicht lautet: »Wovon handelt ein Film?« sondern »Wie geht er mit seinem Thema um?«.
Unter diesen Vorzeichen ist dann aber nicht zu verstehen, warum man etwa die Ereignisse von 9/11 im Gegensatz zu anderen historischen Katastrophen grundsätzlich nicht im Kino darstellen dürfte bzw. sollte.
Wenn man dem Filmverzicht zu einem Thema wie 9/11 tatsächlich nachgibt, akzeptiert man, dass eine diffuse Betroffenheits- und Entrüstungsmaschinerie filmische No-Go-Areas erklärt, was die künstlerische und allgemeine Freiheit nicht weniger beschneidet, als ein staatliches Verbot.
Die Wahrung dieser Freiheit sollte absoluten Vorrang haben, auch wenn dies bedeutet, dass irgendwann zum Thema 9/11 auch schnulzige Filme über heldenhafte Feuerwehrmänner oder billige Reißer über die Eingeschlossenen in den Twin Towers gedreht werden.
Man muss akzeptieren, dass Freiheit eben immer auch die Freiheit der unmoralisch Handelnden ist, weshalb man mit der filmischen Vermarktung von Katastrophen leben muss.
Das gesamte Kino deshalb aber unter Generalverdacht zu stellen, ist eine Anmaßung, die man als aufgeklärter Kinogeher auf keinen Fall hinnehmen sollte.
Wer die schockierende, nervenaufreibende, packende und zugleich erhellende Erfahrung eines Kinobesuchs von United 93 gemacht hat, wird erkennen, wie wichtig die freie Themenwahl im Kino wirklich ist.