Deutschland 2010 · 97 min. · FSK: ab 12 Regie: Tatjana Turanskyj Drehbuch: Tatjana Turanskyj Kamera: Jenny Barth Darsteller: Mira Partecke, Katharina Bellena, Laura Tonke, Sven Seeger, Torsten Haase u.a. |
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Eindringlich, großartig: Mira Partecke ist Greta M. |
Diese Frau schwebt. Sie hat sich in völliger Haltlosigkeit verloren, nachdem ihr alles genommen wurde, was für sie das Leben ausmachte: ihren Job als Architektin, ihren Sohn, vielleicht auch ihren Mann. Das einzige, was sie noch wirklich gut beherrscht ist das Trinken. So sagt sie jedenfalls provozierend in einem Gespräch mit ihrem Coach, der sie auf die Bahn der rechten Bewerbung bringen soll.
Greta M. ist das, was unsere Gesellschaft heute »diskonform« nennt. Sie hinterfragt die bestehende Realität, hat eine bessere Welt vor Augen. Und muss sich in ihrer Vision unweigerlich verlieren. Ihren Job in einem Call-Center übt sie trotzig aus, aber nicht als eine, die was besseres ist, sondern als jemand, dem Norm und Konformität gespenstisch erscheinen, seelenlos. Seelenlos ist auch der neue städtische Raum, den Greta M. durchschreitet, auf ihren Wanderungen durch Berlin. Das, was sie dort findet, ist die New City, gebaut aus Townhouses und Privatstraßen, gesichtslose Fassaden und gesäumt von in ihrer Uniformität wie geklont erscheinenden Menschen. Wie die Figuren im Neorealismus Antonionis scheint sie sich nur dort wohlzufühlen, wo noch Leere herrscht, unbebauter Raum beschritten werden kann: in den brach liegenden Outskirts vor der Stadt. Für Greta M. sind dies die Heterotope der uniformen Gegenwart, Orte, die der Gesellschaft entgegenstehen, eine Form von (noch) ungefüllter Utopie im irreal erscheinenden Raum der Wirklichkeit.
Das Label »Neorealismus« wird deshalb Tatjana Turanskyijs Städte-Film nur bedingt gerecht. Sie hat dem Film eine unauffällige Künstlichkeit verliehen, in der Kühlheit, mit der sie die bestehende Gesellschaft zeichnet. Die Frauen sind adrett, irgendwie alle gleich stylisch gekleidet, für sie gilt allein der berufliche und private Erfolg, ihre Träume und Ideale haben sie für ein gedecktes Konto hinter sich gelassen. Dabei tritt das Formelhafte der Sprache dieser modernen Gesellschaft zutage, die Greta M. immer wieder durchkreuzt, in Worten und durch das, wie sie ist. Wie sie ist, das ist sie mit ihrem Körper, dem eigentlichen Austragungsort der Geschichte: Wenn sie sich volltrunken die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufhangelt, wenn sie ihr Gesicht auf die nackte Tischplatte legt, wenn sie sich fallen lässt, auf einem leeren Feld, im Nirgendwo vor Berlin. Greta M. fällt buchstäblich aus der Gesellschaft raus. Sie ist die faszinierende, aber kaputte Ikone einer Generation, die sich in der Suche nach einem sinnvollen Leben verliert.
Das Fallenlassen ist eines der Fixpunkte des Münchner Choreografen-Labors »Raum.Schmiede«. Unter dem Titel »Weitermachen – Kreativ.Macht.Wirtschaft – Das Bild des Fallens in Theorie und Praxis« wird am kommenden Freitag, den 29. Juli, eine Lecture der Regisseurin Tatjana Turanskyj abgehalten werden, zusammen mit dem Tänzer und Choreographen Sven Seeger. Der Film wird dann am Samstag, 30. Juli, gezeigt. Am Sonntag gibt es dann noch eine Finissage des Summer Camps. Münchner Theaterraum Schwere Reiter, Dachauer Straße 114, gezeigt. Beginn jeweils 20:30 Uhr. Mehr Informationen zu den Veranstaltungen unter www.travelling-activity-zone.org