Flow

Straume

Lettland/B/F 2024 · 89 min. · FSK: ab 6
Regie: Gints Zilbalodis
Drehbuch: ,
Musik: Rihards Zalupe, Gints Zilbalodis
Schnitt: Gints Zilbalodis
Flow - Katze
Die Welt ist alles, was der Fall ist...
(Foto: MFA+/Die FilmAgentinnen)

Sprechen ohne Sprache

Gints Zilbalodis’ mit dem Oscar für den besten Animationsfilm ausgezeichnete dystopische Meditation ist ein faszinierender Hybrid, der über die Abenteuer einer Katze die Möglichkeiten des Menschseins austariert

»Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.«
– Ludwig Witt­gen­stein, Philo­so­phi­sche Unter­su­chungen §43

Wer sich an die Romane des großen briti­schen Schrift­steller J.G. Ballard erinnert, wird sich in Gints Zilba­lodis’ Flow sofort heimisch fühlen. Denn so wie bei Ballard und seinem dysto­pi­schen Endzeit­sze­nario in The Crystal World, in dem die Erde langsam kris­tal­li­siert und sich ein großen Schweigen neben das große Sterben legt, so ist auch bei Zilba­lodis die Welt eine Welt der Stille. Statt kris­tal­liner Trans­for­ma­tionen ist die Welt in Flow aller­dings eine des Wassers. Von Menschen ist in Zilba­lodis’ liebevoll animierter Welt gar nichts mehr zu sehen; vielmehr gibt es noch versprengte Land­massen, zu denen das Wasser langsam hinauf­gur­gelt und schmier­gelnd alles mit sich reißt, was nicht fest verwur­zelt ist.

Statt eines Menschen taucht irgend­wann eine Katze auf, die in den nächsten 80 Minuten der perso­nelle Anker sein wird, an dem die Geschichte vertäut ist, die samt einem Boot, auf dem die Katze durch wasser­ver­wun­schene Land­schaften und verlas­sene Häuser treibt, immer mehr an Fahrt aufnimmt. Das funk­tio­niert durch eine leicht abge­wan­delte Variante des Grimm’schen Märchens Die sechs Diener, in der ein Jüngling, der auf dem Weg ist, eine uner­reich­bare Prin­zessin zu erobern, auf sechs eigen­artig talen­tierte Menschen trifft, die ihm über­ra­schend helfen, sein Ziel zu erreichen.

Bei dem letti­schen Film­re­gis­seur, dessen Film übrigen eine Erwei­te­rung seines sieben­minü­tigen Anima­ti­ons­film Aqua aus dem Jahr 2012 ist und der 2020 mit dem Anima­ti­ons­film Away – Vom Finden des Glücks auf sich aufmerksam machte, sind natürlich keine mensch­li­chen Diener, sondern weitere Tiere, die sich nach und nach auf das Boot der Katze retten und trotz Diffe­renzen lernen, mitein­ander zu leben, zu handeln und letzt­end­lich zu überleben.

Auch wenn dieses Motiv eines und viel­leicht sogar das populärste Narrativ des gegen­wär­tigen Kinder- und Jugend­films ist – gemeinsam sind wir stärker –, ist Flow kein Kinder­film, denn er hat mit den anthro­po­mor­phen Tier­fi­guren der ja überaus populären US-Anima­ti­ons­filme des 20. und 21. Jahr­hun­derts eigent­lich gar nichts zu tun. Niemand redet hier, niemand verhält sich auch nur ansatz­weise wie ein Mensch, die Tiere sind und bleiben hier Tiere, die sprachlos sind und doch versuchen müssen, mitein­ander zu kommu­ni­zieren. Das dürfte kindliche Zuschauer zwar immer wieder faszi­nieren, aber auch lang­weilen, denn ober­fläch­lich passiert immer wieder sehr wenig, ist Zilba­lodis’ Film mehr eine Medi­ta­tion über das Überleben, als ein Kampf für das Leben. Zwar gibt es drama­ti­sche und auch spannende Momente, doch wird hier genauso schnell auch wieder dees­ka­liert, ist es dann wieder das treibende Wasser, der »Flow« eines anderen Lebens, eines anderen Verhal­tens­mus­ters, das hier auspro­biert wird.

Das erinnert auch an einen der großen Ghibli-Filme, an Hayao Miyazakis Ponyo – Das große Abenteuer am Meer, in dem das Wasser ebenfalls eine trans­for­mie­rende Kraft einnimmt, aller­dings ist sowohl die Animation als auch die erzählte Geschichte bei Miyazaki erheblich komplexer, ambi­va­lenter und und dann auch zeitloser.

Dafür ist das zwar intuitive aber im Kern gerad­li­nige Szenario in Flow mehr als tages­ak­tuell, scheint die Kako­phonie des poli­ti­schen Lebens durch den Wahnsinn des welt­weiten Popu­lismus und der unbe­stimmten Sehnsucht nach auto­kra­ti­schen Verhält­nissen doch immer mehr einem Schweigen, einer »Sprach­lo­sig­keit« gleich­zu­kommen, in der keiner mehr mit dem anderen kommu­ni­zieren kann. Flow zeigt auf poetische Weise, wie dieses Sprechen ohne Sprache funk­tio­nieren könnte und dass selbst eine Sprache ohne Wörter kreativ und situativ reagieren kann.

Wohl auch deshalb wird Zilba­lodis für seine langen Jahre der Entwick­lung an diesem Film – 2019 startete die Produk­tion – reichlich entlohnt. Nicht nur mit einem Screening in der Un Certain Regard Sektion in Cannes, sondern vor ein paar Tagen auch mit dem Oscar für den besten Anima­ti­ons­film. In Zilba­lodis’ Heimat Lettland, wo Flow alle Kassen­re­korde brach, wurde dem Film sogar ein Denkmal in Form einer Katze, gleich neben dem Freiheits-Monument in Riga, gesetzt.

Zu Recht, denn Zilba­lodis erzählt ja nicht nur eine tages­ak­tu­elle Geschichte über unsere kommu­ni­ka­tive »Kris­tal­li­sie­rung«, sondern letzt­end­lich auch eine univer­selle Geschichte über die ewige Migration aller Lebewesen auf dieser Erde, von denen der Mensch nur eines ist. Doch ist es hier immerhin eine menschen­ge­machte Arche Noah, stößt die Natur so wie die Politik an ihre Grenzen und muss inzwi­schen fast jede Nation befürchten, zu den nächsten »Boat People« zu werden, ist Flow also ein fast schon perfekter Spiegel, um sich auf das vorzu­be­reiten, was kommt, ohne Angst, aber mit neugie­rigem Staunen.