USA 2003 · 107 min. · FSK: ab 12 Regie: Errol Morris Drehbuch: Errol Morris Kamera: Robert Chappell Darsteller: Robert McNamara |
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Behält die Zügel stets in der Hand: Mr. McNamara |
Der alte Mann thront vor der Kamera. Präziser Scheitel im dünnen Haar. Kühle Augen hinter funkelnden Gläsern. »Ich weiß genau, was Sie denken«, sagt Robert S. McNamara. »Sie denken, dieser Mann ist doppelzüngig. Sie denken, dass er viel für sich behält.«
Robert S. McNamara – Harvarddozent, später Präsident der Ford-Automobilwerke, dann US-Verteidigungsminister während der Kubakrise und der Vietnam-Tragödie, schließlich Weltbankpräsident – ist eine der umstrittensten Figuren des Kalten Krieges. Ein Mann, auf dessen Empfehlung hin Brandbomben auf japanische Städte abgeworfen wurden. Ein Mann, in dessen Amtszeit 'Agent Orange' Bäume entlaubte, Menschen verkrüppelte und Zigtausend Todesopfer forderte. Ein lebendes Feindbild der Friedensbewegung. »Ich weiß, dass viele von Ihnen denken: 'Dieser Mann spielt ein falsches Spiel' – Sie haben unrecht«, sagt McNamara.
20 Stunden lang hat der rennomierte US-Dokumentarfilmer Errol Morris den ehemaligen US-Verteidigungsminister interviewt. Dank einer speziell entwicketen Technik blickt der alten Mann den Zuschauern direkt in die Augen. Haarsträubendes ist zu erfahren, über die Planlosigkeit, mit der Entscheidungen für und wider Kriege fallen. Im Krieg, darauf weist auch der Titel der Dokumentation hin, tappen auch die Mächtigen im Nebel umher. Kuba beispielsweise wurde nur deshalb nicht zur atomaren Katastrophe, weil Cruschtschow – in einem, so mutmaßt man, wodkaumnebelten Moment – eine versönliche Depeche abschickte. Vietnam hingegen wurde zur Tragödie, weil die Amerikaner auf einen Angriff reagierten, der mit großer Wahrscheinlichkeit keiner war. Zufälle, Willkür und vor allem Unwissen diktieren das Weltgeschehen, die Fehlbarkeit der menschlichen Vernunft ist allgegenwärtig.
»Wir haben gesehen, was wir glauben wollten«, bekennt McNamara. Worte wie diese scheinen direkt auf die Gegenwart zu zielen, und machen den Film brandaktuell. Hier liegt, neben der Faszination, einem Zeitzeugen ersten Ranges zu lauschen, die Stärke der Dokumentation und wohl auch Grund für ihre Oscarprämierung.
Mit bestechender analytischer Brillanz enthüllt der Ex-Verteidigungsminister politische Hintergründe des 20. Jahrhunderts und deckt eigene
Fehlentscheidungen scheinbar schonungslos auf. »Wir waren so nah dran, die ganze Welt zu vernichten«, sagt er staunend und lässt nur einen minimalen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger, »Ist das nicht verrückt?« Eine Beichte ist das Filmdokument indes nicht. Die Frage nach der persönlichen Schuld bleibt offen. Wie viele vor (und nach) ihm überträgt McNamara die Verantwortung seinen Vorgesetzten – den amerikanischen Präsidenten Kennedy und Johnson.
Immerhin: Bislang geheim gehaltenes Tonbandmaterial belegt, dass McNamara Präsident Johnsen zum Rückzug aus Vietnam riet – und dafür abgekanzelt wurde. Der als Kriegstreiber gescholtene Ex-Minister – in Wahrheit eine tragische Gestalt, ein Mann, der wider besseres Wissen seinen Präsidenten die Treue hielt und dafür von der Welt gehasst wurde? Oder war sein Handeln damals wie heute bloß kaltes Kalkül?
Fest hält der alte Mann die Zügel des Gespräches in der Hand. Lächelnd offenbart er seine Taktik: Er habe früh gelernt, unbequeme Fragen zu überhören und stattdessen Fragen zu beantworten, die er gern gestellt bekommen hätte. Regisseur Errol Morris akzeptiert diese Vorgabe. Und so gerät die Dokumentation ebenso janusköpfig wie ihr Protagonist. Ausmanövriert von der scheinbaren Offenheit und Cleverness des alten Fuchses gibt er ihm Raum für eine geschickt choreographierte Selbstinszenierung: Als ein Mann, der Fehler gemacht, aus ihnen gelernt und sich nun berufen fühlt, diese anderen zu ersparen. »Elf Lektionen aus dem Leben des Robert S. MacNamara« – so lautet sogar der Untertitel des Films. Seine eigentliche Botschaft: Wenn so ein kluger Kopf wie er, McNamara, so fatal irren konnte, wieviel schwerer irren dann andere, weniger intelligente Geister?
Unbehagen kommt auf angesichts so viel manipulativen Geschicks. Und Empörung darüber, dass dieser Mensch, der vor laufender Kamera äußert, hätte man den zweiten Weltkrieg verloren, wäre er wohl als Kriesverbrecher angeklagt worden, gleichzeitig kein Wort des Bedauerns für die Opfer findet, die er mit zu verantworten hat. 20 Stunden hat Morris mit dem alten Mann gesprochen und dabei viel erfahren. Hinter seine Maske dringt er nicht.
»Ich frage 'mal erst die vom Fernsehen: Seid ihr fertig?« – Robert McNamara, die Person im Zentrum dieses Films auf einer Pressekonferenz, irgendwann in den Sechzigern. Er ist freundlich, hilfreich, kooperativ. Und zugleich ist er es, der sofort den Ton angibt, der die Art der Beziehungen zwischen sich und den Journalisten etabliert. Ein Auftritt. Dann sieht man ein Kriegsschiff, alarmbereit, auf dem Meer. Vorbereitungen für einen Kampf. Eine subtile Analogie wird gezogen zwischen den Soldaten und McNamara, den Soldaten und dem Filmemacher Errol Morris, der die Interviews führte. Beide Seiten machen sich bereit für ein hartes Gefecht.
»Empathize with your enemy«
Dieser Prolog zeigt bereits, was kommen wird, gibt die Grundregeln vor, die bis zum Ende gelten werden. Zwei überaus ihres Mediums, ihrer Mittel und ihrer selbst bewusste Menschen treffen aufeinander, fragen und antworten, ringen miteinander im Prozeß des Verbergens und Enthüllen. Wahrheit, das scheint klar, ist immer subjektiv, eine Art der Darstellung. Und beide wollen Kontrolle: Morris über seinen Film, McNamara über das, was von ihm in Erinnerung bleibt, was ihm wichtig ist. Erzählt wird dieses Ringen anhand einiger Grundaussagen über politisches Verhalten, jener »Lektionen«, die Morris aus seinem über 20-stündigen – von Archivaufnahmen unterbrochenen – Interview destilliert hat, und mit denen er seinen Film gliedert. Es sind, darauf legen beide Seiten wert, Morris' Lektionen, nicht McNamaras. Es handelt sich nicht um Gemeinplätze, allerdings auch nicht um eherne Wahrheiten der politischen Theorie. Man kann sie rein ironisch verstehen, unübersehbar ist, dass sie einander zum Teil widersprechen. Am Ehesten sind es aber strategische Handlungsanweisungen, Überlebensregeln, technischer, aber auch moralischer Art. Zusammengenommen legen sie – quasi als Quintessenzen von Morris' Film – nahe, diesen als eine Art modernen »Fürstenspiegel« zu verstehen, als sehr konkret grundiertes Portrait in allgemeiner Absicht, aber aus subjektiver, parteiischer Perspektive. Ein Stück Philosophie.
Genau dies macht The Fog of War so zeitgemäß und modern. Immer schon erzählten Dokumentarfilme Überlebensgeschichten. Sie handeln von Krisen, Kriegen, Katastrophen. Ihre Helden sind jene, die es irgendwie überstanden haben; Grenzgänger, deren Schicksal dramatisiert und damit zugleich abstrahiert wird, dadurch ins Allgemeine erhoben, und die ihre Erfahrungen mit uns Zuschauern teilen.
Die erste von den erwähnten Regeln lautet, man solle sich in seinen Gegner einfühlen. Morris selbst setzt sich von objektiver Geschichtsschreibung ab. Er will zuhören, McNamaras Sicht der Dinge kennenlernen, aber auch herauskitzeln, verstehen, was McNamara früher dachte, und was er heute darüber denkt. Wer dies nicht akzeptiert, wer klare Bewertungen von Fakten sucht, für den ist Morris' Dokumentation nicht gemacht. Sie lebt davon, dass man offen ist für die Sichtweise McNamaras, dass man nicht von vornherein überzeugt ist, es hier mit einem »Kalten Krieger« und »Kriegsverbrecher« zu tun zu haben.
Solche Überzeugungen würden allerdings auch nicht besonders weit führen. Denn McNamara tritt in dem Film nicht als Rechthaber auf. Er redet sich nicht heraus, verweist nicht auf mangelhafte Erinnerung, sondern benennt seine Fehler und sagt ebenso deutlich wann er nichts sagen will. Mehr als einmal sieht man, noch öfter spürt man, wie McNamara um Haltung kämpft, wie nahe ihm bestimmte Erinnerungen gelten. Aber McNamara macht auch keine Kompromisse. Kühl rechtfertigt er zum Beispiel die Tötung hunderttausender japanischer Zivilisten im Zweiten Weltkrieg durch Angriffe mit Brandbomben mit den Zehntausenden US-Soldaten, die gestorben wären, wenn man Japan durch Landungstruppen hätte erobern müssen. Solche Rechnungen sind unbequem, nicht nur für die, die sie aufstellen. Man weiß, dass sie in der militärischen Logik ebenso liegen, wie in der, die im Krieg die Menschen in Freunde und Feinde einteilt. Jeder Verantwortliche, der sie nicht teilt, wäre am falschen Platz.
McNamara der erste Zivilist an der Spitze des US-Militärs. Zivile Kontrolle über das Militär ist die Voraussetzung dafür, dass Krieg Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln bleibt. Sie fordert aber auch, dass Zivilisten sich auf Militär und Krieg bis zu einem gewissen Grad einlassen, bereit sind, sich die Hände schmutzig machen. The Fog of War ist ein Film über das sich-die-Hände schmutzig machen.
»Get all the data«
McNamara erinnert sich an die Feiern zum Ende des Ersten Weltkriegs – er war damals zwei Jahre alt. Man erfährt etwas über seine Studienjahre in Berkeley, seine Karriere in Harvard, seine Zeit im »Statistical Control Office« der US-Air Force unter General Curtis LeMay, wo McNamara die Effektivität der Bombardements steigern musste – »Maximize efficiency« und »Get all the data« sind genauso Lehrsätze aus jener Zeit, wie »Proportionality should be a guideline in war«.
Schon hier mündet der Film immer wieder in einen Diskurs über Moral in Zeiten des Krieges: Ist das Denken in Verhältnismäßigkeiten schon deshalb unethisch, weil mit ihm der Tod vieler Menschen ebenso mitbeschlossen wird, wie das Nicht-Sterben anderer? Ist McNamara deshalb ein schlechter Mensch, weil er technokratisch argumentiert, und keine kamarawirksamen Krokodilstränen vergießt? Kann Machtbewahrung niemals auch moralisch gerechtfertigt sein? Und: Wird eine Tat dadurch richtig, dass man zu den Siegern gehörte, eine andere dadurch falsch, dass man verloren hat? Dies sind Fragen, auf die der Film glücklicherweise keine schnellen Antworten parat hat, die er stehen und wirken lässt, und die er eher in ihrem Dilemma-Charakter zuspitzt, als ihnen die Spitze zu nehmen. In der Praxis ist es allemal oft der Zufall, nicht Ideologie oder rationale Erwägungen, die über die Ereignisse entscheiden. »Es war reines Glück« lautet McNamaras Fazit aus der Kuba-Krise. Damals hatte er noch Spielraum für politisches Handeln, gab nicht die starre Logik der Eskalation den Ton an. Damals hat die Einfühlung, die Antizipation des Denkens des Gegenüber noch funktioniert. Vielleicht, weil einem die Russen, mit denen man erst 17 Jahre zuvor gemeinsam den Faschismus bekämpft hatte, doch auch kulturell näher standen und vertrauter waren, als die Vietnamesen, mit denen man es bald darauf zu tun bekam. Dort waren die USA, jedenfalls die maßgeblichen Kreise zur Einfühlung nicht in der Lage oder nicht willens. »Lesen Sie keine Geschichtsbücher?« fragte der vietnamesische Politiker Nguyen Co Thach Jahrzehnte später McNamara – er hätte dann wissen können, dass es der Regierung von Hanoi im Krieg nicht um ein Bündnis mit China und um die Weltrevolution ging, sondern um nationale Souveränität. Das fehlende Verständnis führte zur Fehleinschätzung der Kriegssituation – und mittelbar zur Niederlage der USA. Manchmal sind die Mächtigen eben dümmer, als sie selbst, aber auch ihre Feinde wahrhaben wollen.
Und manchmal handeln sie intern ganz anders, als es von Außen aussieht: Eine der kleinen Sensationen dieses Films sind Ausschnitte von erst unlängst freigegebenen Tonband-Protokollen der Diskussionen innerhalb der US-Administration zum Verlauf des Vietnam-Kriegs. Deutlich wird, wie sehr McNamara, der den revoltierenden europäischen Studenten jahrelang als kalter Technokrat, als »Falke« und »Architekt des Vietnam-Krieges« (so jetzt noch eine deutsche Wochenzeitung) galt, als Personifikation des verhassten US-Imperialismus, tatsächlich von Anfang an gegen den Vietnam-Krieg war, immer für Deeskalation plädierte, wie heftig er dafür eintrat, die US-Truppen wieder aus Südostasien heraus zu ziehen. Wenn man vor allem die zugleich feigen wie anmaßenden Kommentare von US-Präsident Johnson hört, versteht man, wieso sich McNamara heute nicht mehr mit dessen Politik identifizieren mag – wenn er auch auf direkte öffentliche Kritik nach wie vor verzichtet.
Das gängige Bild McNamaras muss nach diesem Film revidiert werden. Nach 22 Stunden Interviews ist das, was im Film übrig bleibt, nur die »Spitze eines Eisbergs«, so Morris selbst. Aber begibt sich in die innere Landschaft dieses Politikerhirns.
Die Faszination für die Person McNamara, von der der Film gesättigt ist, besteht nicht in der Tatsache, dass man ihn in mancher Hinsicht als Saulus bezeichnen kann, der zum Paulus wurde. Sie besteht auch nicht darin, dass hier einer in den letzten drei Jahrzehnten – als Weltbankpräsident – gegen den Hunger in der Dritten Welt kämpfte, zum NATO-Kritiker und Anwalt der Armen wurde. Denn es geht nicht primär darum, irgendwann doch noch auf der »richtigen« Seite anzukommen. Die Faszination für diese Person, die distanzierte Sympathie, die man für sie empfindet, besteht darin, dass hier einer ehrlich ist. Sicher nicht absolut, aber im Rahmen des ihm innerlich Möglichen. Zumal McNamara eigentlich immer blieb, was er von Anfang an war: Einer, der eine bestimmte Aufgabe möglichst gut, das heißt für ihn effektiv, vorurteilsfrei lösen will. Technokratie, das heißt immer Neue Sachlichkeit, ganz den – vermeintlichen – Sachzwängen gehorchend. McNamara zeigt bis heute keine Reue. Warum das so ist, wird deutlich. Und wäre der Film besser, wenn er es täte? Was McNamara von den meisten anderen historischen Entscheidungsträgern unterscheidet, ist dass er die Schuldfrage selbst und öffentlich stellt, und dass er seine Verantwortung in keinem Augenblick leugnet.
Be prepared to re-examine your reasoning
Vor allem anderen ist The Fog of War ein menschlicher Film über die Natur des Krieges. Krieg ist komplex, komplizierter als die Natur, lautet das Fazit, das nur scheinbar simpel ist. Tatsächlich stehen am Ende eines Lebens voller Optimismus Ambivalenz, Pessimismus und Zweifel. Und einige konkrete, einstweilen ungehörte Appelle an die Weltmacht Amerika. Der wichtigste, die obschon 2001 ausgesprochen, sich direkt auf den aktuellen Irak-Konflikt münzen lässt lautet: »Wenn wir Nationen mit vergleichbaren Werten nicht von der Richtigkeit unserer Sache überzeugen können, sollten wir unsere Schlussfolgerungen noch einmal überprüfen.«
Die Stilmittel sind in der Regel sehr reflektiert. Der Film stellt sich und seine Hauptfigur in Frage, setzt verschiedenste Mittel zugleich ein, damit sie einander relativieren, Leerstellen erzeugen. Morris setzt auf Beobachtung, nicht auf Kommentar. Damit gelingt es ihm, komplexe Ideen ästhetisch zu machen, Gedanken Gestalt zu geben. Suggestiv und darum bei all seiner Schönheit eher störend, ist dagegen allein der flächendeckende Pathosteppich der Musik von Phil Glass, ein Sequel des Koyanisquatsi-Schicksalssounds. Selten münden auch die Bilder derart in plumpe Symbolik, wie in der Szene, in der einmal aus einem B-25-Bomber Zahlen statt Bomben auf Tokio niederregnen – als ob der Verzicht auf Rationalität und Berechnung irgendetwas im Krieg besser machen würde.
»Um Gutes zu tun, kann es notwendig, sein, sich auf das Böse einzulassen.« lautet eine der letzten Lektionen. Das ist keine Schizophrenie, und auch keine Rechtfertigung militärischer Interventionen. Sondern es ist das offene Eingeständnis, dass es Situationen gibt, in denen man nur die Wahl zwischen verschiedenen Übeln hat. Dass es Situationen gibt, in denen Gewalt und Krieg gerechtfertigtes Mittel der Politik sein können. Dass solche bitteren Einsichten dutzendfach missbraucht werden, macht sie nicht falsch.