Forever Young

Les Amandiers

Frankreich/I 2022 · 126 min. · FSK: ab 12
Regie: Valeria Bruni Tedeschi
Drehbuch: , , ,
Kamera: Julien Poupard
Darsteller: Nadia Tereszkiewicz, Louis Garrel, Micha Lescot, Sofiane Bennacer, Clara Bretheau u.a.
Filmszene »Forever Young«
Eine ehrliche, wertfreie Erinnerung an libertinäre Zeiten...
(Foto: NEUE VISIONEN)

Als die Kunst noch spannend war...

Das Glück der Nostalgie: Valeria Bruni Tedeschi zeigt die 80er Jahre als Gegenentwurf zum heutigen Neo-Biedermeier

Wer sich an die 80er Jahre erinnern könne, so der unver­gess­liche öster­rei­chi­sche Popstar Falco, habe die 80er Jahre überhaupt nicht erlebt.

Die Regis­seurin Valeria Bruni Tedeschi, inzwi­schen eine sehr bekannte Film­schau­spie­lerin, erinnert sich trotzdem, und das ziemlich gut: Sie war damals in den frühen 80ern als Schau­spiel­schü­lerin Teil der »École des Amandiers« am gleich­na­migen Theater im Pariser Vorort Nanterre. Es wurde seiner­zeit vom legen­dären Theater- und Opern­re­gis­seur Patrice Chéreau geleitet. Vieles, was man in diesem Film sieht, ist also tatsäch­lich passiert, und zeigt, wenn auch alles hier ange­messen fiktio­na­li­siert wird, bekannte Figuren der fran­zö­si­schen Kunst­szene wie in einem Schlüs­sel­roman.

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Les Amandiers heißt auch dieser Film im Original. Er steht für eine sehr fran­zö­si­sche Tradition des Autoren­kinos: Zum einen der, Erfah­rungen und histo­ri­sche Momente aus dem Leben der Regis­seure selbst ans Publikum weiter­zu­rei­chen. Zum anderen für die Gewohn­heit, die eigene nationale künst­le­ri­sche Tradition zu pflegen, und klas­si­sche Künste, Literatur oder Musik oder Malerei mit der »Siebten Kunst«, der des 20. Jahr­hun­derts, mit dem Kino zu verbinden. In diesem Fall das Theater.

Gleich zu Beginn erleben wir Anfang der 80er – das ist für das Vers­tändnis wichtig: nicht wie jetzt geschrieben wurde »Ende der Acht­zi­ger­jahre« – ein paar junge Menschen bei der Aufnah­me­prü­fung für die Schau­spiel­schule. Die nun folgende Geschichte basiert im Kern auf dem im Kino regel­mäßig wieder­keh­renden – und, offen gesagt, ein wenig klischee­haften – Muster, das spätes­tens seit Fame – Der Weg zum Ruhm ein eigenes Genre bildet: Eine Gruppe von jungen ambi­tio­nierten Menschen will auf einer renom­mierten Kunst­schule aufge­nommen werden. Während des harten Aufnah­me­pro­zesses und der noch härteren Ausbil­dung durch­leben die Jugend­li­chen in dem geschlos­senen Raum der Schule höchst intensiv und leiden­schaft­lich alle Arten von beruf­li­chen, amourösen und exis­ten­zi­ellen Krisen, Sehn­süchten und Erfolgen.

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Bruni Tedeschi tut aller­dings noch mehr: Die Regis­seurin verbindet ihre eigene auto­bio­gra­phi­sche Geschichte und die der Thea­ter­gruppe mit der der 80er Jahre: Dem post­mo­dernen Umbruch der Moderne, der sich vor allem durch eine auffal­lende Zahl an Erklärungen eines Endes auszeich­nete: Das »Ende der großen Erzäh­lungen«, das »Ende der Utopien«, das »Ende des Wachstums«, das »Ende der Geschichte«. »No Future!«

Mitte der 1980er Jahre war zugleich der Moment, in dem AIDS ins Alltags­leben der Menschen eindrang – und zwar aller Menschen, nicht nur der Schwulen- oder der Künst­ler­szene. Die Immun­krank­heit, die Debatten über Sexua­lität, der Beginn der öffent­lich sicht­baren Homo­se­xu­el­len­be­we­gung spielen alle eine große Rolle in der Film­hand­lung, ebenso die Drogen: Mehr Heroin, als Kokain. Auch Tscher­nobyl kommt vor, aber alles nicht drama­tisch, vor allem nicht »betroffen«.
Der Film hat eine große Authen­ti­zität. Er schafft es, sein Publikum in diese Zeit und an diesen Ort zurück­zu­ver­setzen. Und das ohne mit großem Drama, mit Plot und »Handlung« aufzu­trumpfen. Das Geschehen treibt dahin, wie das Leben selbst.

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Hoch­in­ter­es­sant für Thea­ter­fans ist nicht zuletzt auch die Darstel­lung des Thea­ter­re­vo­lu­ti­onärs Patrice Chéreau. Wir erleben hier Szenen der Arbeit mit Pierre Boulez, an seinen berühmten Insze­nie­rungen von Bernard-Marie Koltès und von Tschechows »Platonov«.
Einem Stück über das Ende der Jugend.
Die junge Schau­spie­ler­truppe wird mit den hohen Anfor­de­rungen eines Regis­seurs konfron­tiert, der alle Schau­spieler, vom Haupt­dar­steller bis zum Neben­dar­steller, als Haupt­ak­teure betrachtet.

Die Inten­sität des Privat­le­bens geht in die Insze­nie­rung ein: »Platonov« wurde 1986 beim Festival von Avignon gezeigt und 1987 von Chéreau mit dem Film Hôtel de France verfilmt. Zu den jungen Schau­spie­lern, die damals neben Valeria Bruni Tedeschi dabei waren, gehören Vincent Pérez, Agnès Jaoui, Marianne Denicourt und Bruno Tode­schini.
Im Film werden sie allesamt von anderen jungen Schau­spie­lern gespielt, angeführt von einer rätsel­haften Nadia Tereszkie­wicz als Alter Ego der Regis­seurin. Den Patrice Chéreau spielt Louis Garrel genau in so einer Mischung aus Unbe­re­chen­bar­keit und Loyalität, wie Chéreau dies im richtigen Leben gehabt haben muss.

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Es ist ein Film voller Charme, und Leiden­schaft. Es geht immer um alles in diesem Film – den Figuren wie der Regis­seurin.

In einem gewissen Sinn widerlegt die Regis­seurin mit diesem Film selbst all diese ganzen, oben beschrie­benen 80er-Jahre-typischen End-Erklärungen: Valeria Bruni Tedeschi erzählt nämlich eine ganz univer­sale, klas­si­sche, »große« Geschichte: Sie handelt von den Träumen und Visionen aller Künstler dieser Erde zu allen Zeiten, eine Geschichte von sehr viel Liebe, sehr viel Sensi­bi­lität und sehr viel Kraft.

Insofern ist dies auch die Geschichte einer Jugend, die einer­seits der Gegenwart durch ihre Kraft und Selbst­er­mäch­ti­gung verbunden ist, ande­rer­seits von ihr getrennt, weil viel weniger Empfind­lich­keiten bestehen – gerade in den sexuellen Bezie­hungen, von denen die Regis­seurin sehr freizügig und offen erzählt.
Und in den Vorstel­lungen aller Betei­ligten vom Kunst­be­trieb. Kunst ist hier nämlich unbedingt elitär und hier­ar­chisch, von Autorität geleitet und unde­mo­kra­tisch. Er werde nicht demo­kra­tisch sein, sagt der Chéreau des Films kühl, der auch »in echt« selbst­ver­s­tänd­lich mit Schau­spie­lern Sex hatte oder Bezie­hungen, und sich eher selten einer weich­ge­spült-»achtsamen« Sprache bediente.

In der ehrlichen, wert­freien Erin­ne­rung an diese nahen fernen, fremden, liber­tinären Zeiten, die manches »Schnee­flo­cken«-Gemüt betrüben dürften, liegt der philo­so­phisch-poli­ti­sche Clou dieses Films, seine Stärke und sein Charme.

Denn auch in diesem Sinn ist Forever Young unter anderem ein nost­al­gi­scher Film. Nicht nur die Regis­seurin sehnt sich nach einer Zeit, in der voll­jäh­rige Menschen keine öffent­li­chen Betra­gens­noten bekamen, in der man sich nicht in allem Möglichen anständig und »gut« benehmen müsste, in der man rauchte, trank, freien Sex hatte, Drogen nahm, und das nicht sofort »Drogen­miss­brauch« hieß.
Nach einer Zeit, in der manche Künstler sich womöglich weniger wohl­ge­fühlt haben, und Einhal­tung der Arbeits­zeiten nicht das zentrale Thema war, die Kunst selbst aber einfach besser war, wichtiger, span­nender, kommu­ni­ka­tiver und darum in der Gesell­schaft einen anderen Stel­len­wert besaß.
Das färbte dann wiederum auch auf das Selbst­be­wusst­sein der Menschen ab.

Glücklich, wer das erlebt hat, und sich erinnern kann!

Die Spielwütigen

Valeria Bruni Tedeschi inszeniert mit Forever Young eine Autofiktion über die wilden Lehrjahre im Theater Les Amandiers

Spiel des Lebens: Das Théâtre des Amandiers im Pariser Vorort Nanterre war in den Acht­zi­ger­jahren eine Hochburg für Bühnen-Expe­ri­mente. In diese Zeit fällt auch der Beginn der Schau­spiel­kar­riere von Valeria Bruni Tedeschi, die mit Forever Young (Origi­nal­titel: Les Amandiers) an den Ort zurück­kehrt, an dem alles begann. Kein Gerin­gerer als Patrice Chéreau war der Intendant, der mit über­zeu­gender Cholerik von Louis Garrel verkör­pert wird. Intensiv gleitet die Kamera von Julien Poupard (Die Wütenden – Les Miséra­bles) in das Geschehen hinein, zeigt auf grob­kör­nigem Film­ma­te­rial, kontrast­reich und zitternd, eine Verge­wal­ti­gung. Ein Indiz, dass diese nicht dem filmi­schen Realismus gehorcht und sich also nicht »wirklich« zuträgt, ist das thea­ter­hafte Sprechen des perfor­menden Paares.

Die gewalt­volle Szene ist nur ein Vorspre­chen für die Aufnahme an der Thea­ter­schule beim legen­dären Theater-Regisseur Pierre Romans (Micha Lescot), der am Théâtre des Amandiers unter­richtet. Und das Vorspiel für den Hauptakt des Films, der dann kommt. Selbst wenn man nur wenig über sie weiß, erkennt man doch bald in der zarten blonden jungen Stella (Nadia Tereszkie­wicz) die italie­nisch-fran­zö­si­sche Indus­tri­el­len­tochter Valeria Bruni Tedeschi, die sich in all ihren bishe­rigen Regie­ar­beiten eine Alter-Ego-Welt geschaffen hat, ein Second Life der anderen Art, in dem sie für die Leinwand sich selbst und ihr Leben insze­niert. So in Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr..., in dem sie den ihr pein­li­chen Reichtum auf die Leinwand brachte, oder in Actrices, in der sie mit Verve den zuneh­mende Reali­täts­ver­lust einer Schau­spie­lerin insze­nierte. Jetzt also Les Amandiers, mit der jungen Stella als fiktio­naler Alter Ego, die sich in den haltlosen und bald dem Heroin verfal­lenden Étienne (Sofiane Bennacer) verliebt, eine liaison dange­reuse, gar eine liaison de péril, die Leiden­schaft entfacht und Energie verbrennt, zum Ende hin viel Raum einnimmt und den Film auch zur Trau­er­ar­beit werden lässt.

Viel Zeit­ko­lorit ist im Spiel, und ja, so konnte man tatsäch­lich die Achtziger erleben: Im kleinen Auto stapeln sich die jungen Leute – damals nahm man immer alle mit, es ging drunter und drüber — , Rita Mitsoukou ist vom Kasset­ten­re­korder zu hören: »Eh, Andy, dis-moi oui!«. Das ist Leicht­sinn à toute vitesse, in voller Fahrt, ständig und überall wird geraucht, Männer und Frauen halten noch eindeutig erotische Bezie­hungen, Me too ist zumindest als Hashtag (nicht in der Realität) noch weit entfernt, Aids ist dafür voll da. Voll­brem­sung inbe­griffen. Abtrei­bungen und Schwan­ger­schaften mit Neunzehn und Frühehen sind in den Acht­zi­gern keine Selten­heit, anders als die offen ausge­lebte Homo­se­xua­lität. Alles ist hete­ro­nor­mativ und trotzdem hors normes. Das Kondensat der Acht­zi­ger­jahre verdichtet sich im Film schlag­licht­artig, reißt mit und setzt Erin­ne­rungs­ströme frei – ist aber trotzdem wahr.

Forever Young konzen­triert sich zunächst auf die jungen Schau­spieler*innen, auf ihren Ehrgeiz, ihre Unsi­cher­heit, ihr Wanken, auf die harten Proben und uner­bitt­li­chen Methoden der Schule. Patrice Chéreau schreit herum, die Regie­as­sis­tentin verliert die Nerven. Vieles mag klischee­haft wirken, überzogen, auch weil man Valeria Bruni Tedeschi als Schau­spie­lerin oft in exal­tierten Perfor­mances erlebt hat. Dennoch exis­tieren diese Insze­nie­rungs­weisen. Schrei­ende Regis­seure und weinende Schau­spieler*innen: ja, die gab und gibt es wirklich. Nach den harten Anfängen geht es im Film wild weiter: Es geht um freie Liebe, harte Drogen und fran­zö­si­sche Pop-Musik, alle Facetten des Lebens werden von den Spiel­wü­tigen erprobt.

Niemals hat Valeria Bruni Tedeschi in ihren Filmen, egal, ob als Regis­seurin oder als Schau­spie­lerin, geheim­ge­halten, dass an der Schau­spie­lerei sie diese selbst am meisten inter­es­siert. Sie ist eine Actrice, die das Schau­spielen auf einer mitschwin­genden Metaebene selbst performt. Forever Young ist ihr Manifest für die Unter­schieds­lo­sig­keit von Leben und Theater, und für das Verschwinden des auto­bio­gra­phi­schen Menschen auf der Bühne.