Frankreich 2012 · 100 min. · FSK: ab 16 Regie: Alain Guiraudie Drehbuch: Alain Guiraudie Kamera: Claire Mathon Darsteller: Pierre Deladonchamps, Christophe Paou, Patrick d'Assumçao, Jérôme Chappatte, Mathieu Vervisch u.a. |
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Der Voyeur im Gebüsch: Libertärer Sex oder versteckter Puritanismus? |
Das Kino ist eine Utopie; die Liebe ist eine Utopie. Aber beides ist heute kontaminiert vom Neoliberalismus unserer Zeit. Es gibt auch einen Neoliberalismus des Sexuellen. Die Figuren in Der Fremde am See von Alain Guiraudie sind solche Neoliberale der Sexualität, sie sind vampirische Konsumenten ihrer Mitmenschen, haltlos, ignorant, brutal, nicht unbedingt sympathisch.
Der Film spielt komplett an einem einzigen Schauplatz, über mehrere Tage: Ein See in der französischen Provinz, irgendwo im Süden, irgendwann in den Sommerferien. Im allerersten Moment glaubt man sich an einen gewöhnlichen Urlaubsort versetzt, doch sehr schnell ist klar, dass hier am FKK-Strand nur Männer in der Sonne liegen und alle nur aus einem einzigen Grund hierher kommen: Es handelt sich um einen schwulen Sex-Spot. Manche sind verabredet, andere suchen sich wechselnde Sexpartner, wieder andere gucken zu und befriedigen sich selbst, aber alle verschwinden früher oder später in den Büschen. Dem Regisseur gibt dies Gelegenheit zu bukolischen Szenarien von in verschiedensten Positionen vögelnden Männerkörpern in sattgrünen Büschen und zu mehr als einem halben Dutzend ausgiebiger, mehr oder weniger pornographisch-expliziter Sex-Szenen. Der große Unterschied zu Filmen wie Abdellatif Kechiches Cannes-Sieger La vie d’Adèle – und das, was diese Szenen schlechter macht – ist hierbei das offensive Ausstellen primärer Geschlechtsmerkmale. Im Klartext: Fortwährend sieht man erigierte Schwänze die gelutscht, geleckt und gewichst werden.
Vor diesem Hintergrund erzählt Regisseur Guiraudie eine Story, die man nun wahlweise als Thriller-Handlung oder als Amour-fou-Drama lesen kann: Es gibt eine klare Hauptfigur: Franck, Anfang 30, gutaussehend, von dem man nicht viel weiß, außer, dass er hier täglich hinkommt, und wechselnde Sexpartner hat. Eines Abends dann, der Strand ist schon verlassen, beobachtet er vom Gebüsch aus ein Paar, das im See schwimmt. Aus heiterem Spiel – untertauchen – wird ernst, als der eine den anderen, wie es scheint aus einer Laune heraus, ertränkt.
Franck verrät nichts. Von nun an beobachtet er den Anderen namens Michel, und verliebt sich schnell in ihn. Offenkundig fühlt er sich durch dessen Gewalttat angezogen. Auch Michel wird aufmerksam, beide haben über die nächsten Tage mehrfach Sex. Zur gleichen Zeit wird im See eine Leiche gefunden, die Polizei beginnt zu ermitteln, und verschiedene Indizien deuten auf Franck wie auf Michel hin. Der Verdacht zersetzt auch die Idylle am See – und zunehmend die Beziehung zwischen Franck und Michel.
Dieser Michel bleibt ein großer Unbekannter. Ein egoistischer Wolf. Ein Blaubart. Wer ist er? Wo kommt er her? Warum hat er gemordet? Was treibt ihn an? Hat er es auch auf Franck abgesehen? Auch Franck selbst ist natürlich ein unklarer, diffuser Charakter. Was will er? Warum begibt er sich in Gefahr? Sucht er den Kick? Fasziniert ihn Gewalt? Hat er masochistische Neigungen?
Der größte Stärke dieses ausgezeichneten Films liegt darin, dass wir einen Schauplatz sehr präzis kennenlernen, seine offenen Regeln und seine ungeschrieben Gesetze, seine Rituale und seine Tabus, nicht zuletzt seine Bewohner und ihre Gewohnheiten. Das befriedigt neben Voyeurismus auch schlichte Neugier. Wie geht das ab?
Die latente Behauptung des Films ist: Schwule haben anderen, freieren Sex. Aber der Film zeigt auch, dass es so etwas wie eine schwule Gemeinschaft nicht gibt. Es gibt aber dagegen hier auch eindeutig repressive Züge: Dies ist ein kritischer Blick auf freie Sexualität und libertäre Lebensformen, ein versteckter Puritanismus. In Gestalt des ermittelnden Kommissars – eine großartige Filmfigur – wird diese (puritanische?) Befremdung des Beobachters von außen ausgesprochen: »Ihr Typen habt merkwürdige Sitten, eine merkwürdige Art zu leben«, sagt er, »das ist bizarr. Ihr tauscht keine Nummern, noch nicht mal Vornamen. Einer von euch ist ermordet worden und nach zwei Tagen geht’s weiter. Sein Wagen steht hier herum, keiner merkt etwas oder kümmert sich. Es geht mir nicht um Mitleid, aber…«